Wie ihre Mutter sind auch Jessi und ihre ältere Schwester Bibi eingesperrt. Jessi sitzt bei ihrer unsympathischen Pflegemutter fest, Bibi im Trott einer schlecht bezahlten Anstellung in einer Fabrik. Heute ist Bibis Geburtstag, aber die Mutter hat kein Geschenk. Vielleicht konnte sie sich im Gefängnis um keines kümmern, vielleicht hatte sie den Geburtstag vergessen. Aus dem Gefängnis ihrer Mutter wird Jessi abgeholt und in ihr eigenes gebracht: das Heim ihrer Pflegemutter. „Jetzt machen wir Frauentag.“, verkündet die, rollt Jessi Lockenwickler ins Haar und setzt sie neben sich vor den Fernseher. Die Ziehtochter behandelt sie wie eine Puppe, mit der sie spielen kann. Jessi aber wünscht sich echte Zuneigung. Also reißt sie aus. Nur ein ganz kleines Ausreißen, zu ihrer großen Schwester Bibi. Unterbewusst will Jessi in ihre Kindheit fliehen, jene Kindheit, welche sich auch wie Kindsein anfühlte. Aber eine Rückkehr in die behütete Kinderzeit gibt es nicht. Bibi wohnt jetzt bei ihrem Freund Kevin im Ort. „Jessi“ erzählt von der vergeblichen Flucht vor einer lieblosen Kindheit. Doch der Gefühlskälte um sie herum kann die junge Titelheldin nicht entkommen.
Auf den ersten Blick sieht die großartige Hauptdarstellerin Luzie Ahrens fast wie ein Junge aus. Sie spricht nicht viel. Meistens bleibt sie stumm. Aber sie beobachtet, sie fühlt und ahnt, was die anderen um sie herum unausgesprochen lassen. „Jessi“ ist kein „armes, kleines Mädchen“. Für die stereotype Opferrolle wirkt sie denkbar ungeeignet. Dennoch ist sie Opfer, wohl das größte in der zerstörten Familie, welche Schneider in ihrem Kurzfilm beobachtet. Gefängnisse sind für „Jessi“ ein trauriger Bestandteil ihres Lebens geworden. Schneiders Spielfilm zeichnet das Bild einer besonderen Art der Sippenhaft. Die Bestrafung der Mutter trifft auch die Töchter, indirekt müssen sie die Schuld mittragen. „Der kann man doch nicht glauben!“, behauptet die Stiefmutter über Jessi. In der Fremdwahrnehmung überträgt sich die Kriminalität der Mutter auf die Töchter. „Bist du genauso wie die Mama?“, schimpft Bibi, als sie ihre kleine Schwester bei einem Diebstahl ertappt: „Sind wir wieder die Asozialen!“ Schwerer als die Trauer wiegt die Scham. Die Angst vor der sozialen Stigmatisierung zwingt die Schwestern zu besonders strenger Anpassung.
Es braucht seine zeit, bis man sich mit „Jessi“, der Hauptfigur und dem Film, angefreundet hat. Kaum ist es geschehen, ist Schneiders Film vorbei. Umso intensiver wirken dessen ruhige Bilder nach. Einmal fährt Jessi mit einem Rasierapparat über ihren Unterarm. Es ist nur der elektronische Apparat von Kevin, doch die Szene verweist auf einen Schnitt, den sich Jessi eines Tages mit einer schärferen Klinge zufügen könnte. Jessi spricht nicht viel. Aber innerlich schreit sie unendlich laut.
Titel: Jessi
Berlinale Perspektive Deutsches Kino
Land/ Jahr: Deutschland 2009
Genre: Drama
Regie und Drehbuch: Mariejosephine Schneider
Darsteller: Luzie Ahrens, Sophie Rogall, Jasmin Rischar, Anja Stöhr, Michaela Hinnenthal
Laufzeit: 31 Minuten
Bewertung: ***