Kita-Bericht: Abbruchunternehmen Deutschland auch für die Jüngsten

Ein Drachen.
Ein Drachen fliegt. Quelle: Pixabay

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Wie steht es denn in den Krippen, Kindergärten und Horten? Der Rechtsanspruch auf einen Platz, den Kinder inzwischen haben, kann vielfach nach wie vor nicht eingelöst werden. Aber der Bericht des Paritätischen Gesamtverbandes zu den Kitas zeigt, dass es noch weit größere Probleme gibt.

Der Kita-Bericht des Paritätischen Gesamtverbandes illustriert geradezu beispielhaft, was in der deutschen Gesellschaft selbst dann falsch läuft, wenn man gerade mal nicht nach einem Weltkrieg strebt. Wenn man neben den Punkten, die der Paritätische selbst in seiner Auswertung anspricht, noch jene mit hinzunimmt, die nicht benannt werden, weil auch der Paritätische als Trägerverband Eigeninteressen hat, dann ergibt sich insgesamt die inzwischen vertraute aufkommende Katastrophe.

Am deutlichsten wird das bei der Frage der Stellenbesetzungen, die auch vor allem von den Medien aufgegriffen wurde. Befragt wurden von Mai bis Juni 2023 1.760 Personen im Bundesgebiet, überwiegend Leiter von Kindertagesstätten; da die Umfrage vom Paritätischen durchgeführt wurde, stammen die Daten überwiegend aus Einrichtungen eben dieses Trägerverbands. Was vielleicht dazu führt, dass ländliche Räume im Westen unterrepräsentiert sind, weil dort vielfach kirchliche Träger dominieren, die zu Caritas oder Diakonie gehören, oder die sozialen Probleme in den Großstädten noch etwas zu milde dargestellt sind, weil in den ärmeren Vierteln meist mehr kommunale Kitas sind, aber selbst mit diesen Einschränkungen ist das Ergebnis bedrückend genug. Und die zentralen Entwicklungen haben sich bereits vor Jahren auch in anderen Untersuchungen angedeutet.

Bei der Hälfte aller Kitas, so die Umfrage, ist mindestens eine Stelle unbesetzt. Allerdings handelt es sich dann in der Regel nicht nur um eine Stelle; der Durchschnitt liegt bei 2,6 unbesetzten Stellen je Kita. 72 Prozent der Einrichtungen meldeten, dass die Beschäftigten regelmäßig Überstunden leisten, und bei 20 Prozent führt der Personalmangel dazu, dass gar nicht alle Plätze belegt werden können – im Durchschnitt der betroffenen Einrichtungen sind das 14. Das sind Kindergartenplätze, die offiziell gezählt werden, aber von keinem Kind genutzt werden können. 80 Prozent der Leitungen meldeten, dass sie als Springer arbeiten, um Ausfälle durch Krankheit, Elternzeit et cetera aufzufangen. Aus all diesen Daten berechnete der Paritätische, dass bundesweit etwa 125.000 Stellen in Kindertagesstätten nicht besetzt werden können.

Das ist allerdings kein Problem, das vom Himmel gefallen ist. Einen wichtigen Faktor dafür benennt auch die Studie: Je ärmer die Umgebung, in der die Kita liegt, desto größer sind die Probleme in allen Bereichen, von der räumlichen Ausstattung über die Zahl der Kinder, die eigentlich Eingliederungshilfen brauchen, bis zu Schwierigkeiten bei der Spracherziehung. Und eben diese Kitas haben dann mehr Abgänge als Zugänge beim Personal.

„Je stärker der Sozialraum als benachteiligt wahrgenommen wird, desto größer ist der Anteil der unbesetzten Stellen. Lediglich in einem Viertel der Einrichtungen in benachteiligten Sozialräumen gibt es keine unbesetzten Stellen, gegenüber 43 Prozent in privilegierten Sozialräumen.“

„Als benachteiligt wahrgenommen“ ist natürlich Beschönigungssprache, genauso wie „von Armut bedroht“. Aber es ist eine ganz schlichte Logik: Warum sollte jemand, der die Wahl hat, in einer extrem stressauslösenden Umgebung oder in einer entspannteren zu arbeiten, ausgerechnet die stressauslösende wählen? Nicht zu vergessen, dass nach einer Ausbildung, die fünf Jahre dauert und teilweise auch noch privat finanziert werden muss, am Ende das Gehalt mit 2.970 Euro brutto beginnt und nach zehn Jahren immer noch nur 3.500 Euro beträgt. Netto ist das dann etwas mehr als 2.000 Euro im Monat. Weshalb die Abwanderung nicht nur von den Kitas in benachteiligten Gegenden in die Kitas in wohlhabenderen Gegenden erfolgt, sondern auch noch in ganz andere Berufe.

Nicht, dass die Beschäftigten sich nicht bemüht hätten, dem abzuhelfen. Schon vor fünfzehn Jahren gab es große Streiks in den öffentlichen Kitas, um diese Gehälter endlich anzuheben. Aber der größte Arbeitgeber in diesem Sektor ist die öffentliche Hand, und dabei vor allem die Kommunen, was die Durchsetzung dieser Forderungen sehr erschwert, weil die Kommunen schlicht zu wenig Geld haben. Nur, um den stetigen Abfluss aus diesem Beruf (wie aus den Pflegeberufen) zu beenden, ist eine angemessene Bezahlung ein notwendiger Schritt. Was im Bericht nicht erwähnt wird, weil der Paritätische in dieser Frage eben vor allem Arbeitgeber ist.

Um zu begreifen, mit wie vielen Problemen die Kitas zu tun haben, genügt es, zu wissen, dass in 14,1 Prozent der großen Kitas (die sich vor allem in Großstädten finden) neben Deutsch 16 oder mehr andere Sprachen gesprochen werden. Wobei es, das zeigt auch diese Studie wieder, weit eher die Armut der Eltern ist als die Herkunft, die darüber entscheidet, ob es Probleme beim Spracherwerb gibt.

„Auch in den Einrichtungen, die nur wenige oder keine mehrsprachig aufwachsenden Kinder betreuen, ist der Zusammenhang zwischen BuT-Leistungsbezug und Sprachförderbedarf signifikant.“

Das Kürzel BuT-Leistungsbezug bezieht sich auf das Bildungs- und Teilhabepaket, eine Hinterlassenschaft einer gewissen Ursula von der Leyen, die einst, ehe sie erst Verteidigungsministerin wurde und sich dann daran machte, die EU-Länder in den Untergang zu führen, auch ein Gastspiel als Familienministerin gab. Und dabei, als klar wurde, dass die Leistungen von Hartz IV nicht dafür reichen, Kinder in Sportvereine oder in den Instrumentalunterricht zu schicken, dieses bürokratische Monster erfand, bei dem ein weiterer umfangreicher Antrag gestellt werden muss, weil arme Eltern ja sonst das Geld versaufen würden. 2019 schrieb eben dieser Paritätische, dass je nach Bundesland zwischen 46,6 Prozent (Schleswig-Holstein) und 6,7 Prozent (Saarland) der an sich anspruchsberechtigten Kinder diese Leistung erhielten. Was gleichzeitig bedeutet, dass der Anteil der Kinder in einer Kita, die diese Leistungen bekommen, zwar ermöglicht, zwischen den ärmeren und den reicheren Gegenden zu unterscheiden, aber die tatsächliche Armutsquote mindestens das Dreifache, womöglich aber mehr als das Zehnfache beträgt.

Was sich dann noch anders bemerkbar macht. Infolge der Inflation seit 2022 hat bei der Umfrage fast die Hälfte der Einrichtungen angegeben, die Kinder nicht mehr mit einer ausgewogenen Ernährung versorgen zu können. Insgesamt 43 Prozent gaben an, von freiwilligen Sach- und Geldspenden der Eltern abhängig zu sein, um dieses Problem zu lösen; in Berlin (54 Prozent) und in Sachsen-Anhalt (57 Prozent) war der Anteil besonders hoch.

Der Grund dafür liegt darin, dass die Kostensteigerungen bei Energie und Nahrungsmitteln bei den öffentlichen Zuschüssen eben nicht aufgefangen wurden, und einfach auf die Besuchsgebühren können sie auch nicht aufgeschlagen werden.

„Nur etwa in einem Drittel der Einrichtungen werden die Kostenentwicklungen der letzten 12 Monate bei der Refinanzierung durch den örtlichen Kostenträger vollständig berücksichtigt.“

Und auch hier sind zwei Punkte klar: Zum einen ist die Wahrscheinlichkeit, dass Eltern diesem Zustand mit Spenden abhelfen können, in armen Gegenden besonders niedrig, und zum anderen sind es gerade die armen Kinder, für die eine gesunde Ernährung in der Kita besonders wichtig wäre. Wie man sich dreht und wendet, man sieht das gleiche soziale Problem.

Aber nun kommen wir zum Bonus, dem typischen Fall von gut gemeint, aber dann besonders schlecht gemacht. Inklusion.

Drei Viertel aller Einrichtungen betreuen Kinder, die „Teilhabeleistungen“ erhalten. In diesem Fall bedeutet das, sie haben Anspruch auf Eingliederungshilfe oder andere Leistungen nach den SGB VIII und IX. Unverständlich? Richtig. Dabei kann es sich um therapeutische Maßnahmen handeln, wie Logopädie, die über die Krankenkassen finanziert werden, um Leistungen zur Verhinderung einer seelischen Behinderung, die über die Jugendämter laufen, bis hin zu Maßnahmen, die über Rehabilitationsträger organisiert sind.

Erst einmal die einfachen Tatsachen. 61 Prozent der Kitas haben keine Fachkraft, die speziell für Inklusion ausgebildet ist. 56 Prozent haben eigentlich nicht die räumlichen Voraussetzungen (zum Beispiel keine barrierefreien Zugänge), 60 Prozent bekommen für Inklusionsleistungen keine zusätzlichen Personalstunden, und bei 71 Prozent verringert sich auch nicht die Gruppengröße. Dafür waren 74 Prozent der Eltern mit den Anträgen überfordert, die zum Ausgleich lange bearbeitet werden, bei 9 Prozent über ein Jahr lang…

Das klingt schon sehr überzeugend. Jetzt muss man nur noch ein Stichwort hinzufügen, um zu dem Teil des Problems zu kommen, mit dem sich der Paritätische nicht befasst, weil er Träger ist. Die Voraussetzung dafür, dass die Kinder, die eine solche Unterstützung benötigen, und für die es ein Gewinn sein sollte, statt in spezialisierte in normale Kindertagesstätten zu gehen, ist das Stellen vieler komplizierter Anträge, denen oft noch eine Begutachtung vorausgeht. Jeder, der mit solchen Verfahren zu tun hat, weiß, dass schon bei der Begutachtung oft lange Wartezeiten auftreten.

Und dann gibt es das Stichwort „nachrangig“. Das ist gewissermaßen das Urböse im Dschungel der Sozialleistungen. Die vielleicht bekannteste Version ist, dass man, um einen Antrag auf Bürgergeld stellen zu können, erst einmal nachweisen muss, dass man kein Wohngeld bekäme… also einen ablehnenden Bescheid darüber braucht. So ist das im Bereich der Eingliederungshilfe auch gestaltet. Da gibt es nicht nur die Vermögensprüfung, da muss dann womöglich auch noch in Form eines abgelehnten, also zuerst gestellten, Antrags nachgewiesen werden, dass für eine bestimmte Leistung nicht doch die Krankenkasse aufkommt, oder das Jugendamt… Dass sich viele Eltern davon überfordert fühlen, liegt nicht daran, dass sie zu dumm wären, sondern daran, dass die ganze Struktur so aufgebaut ist, dass sie überfordern muss.

Was dann aber letztlich nicht nur Folgen für das betroffene Kind hat, sondern auch für alle anderen drumherum, weil eben kein zusätzliches Personal da ist, um irgendetwas aufzufangen, und damit für alle weniger „auffälligen“ Kinder weniger Aufmerksamkeit übrig ist. Wie sich das dann langsam in eine Kaskade des Mangels verwandelt, kann man sich vorstellen, wenn man hinzufügt, dass der Anteil der Kinder mit diesem Unterstützungsbedarf in den armen Vierteln ebenfalls höher ist. Was wiederum ein wenig, ein klein wenig mit der sozialen Entmischung von Wohnvierteln zu tun hat, die nach 20 Jahren Hartz IV, Mietobergrenzen und stetig steigenden Mieten inzwischen in jeder Kommune stattgefunden hat.

So begrüßenswert es im Prinzip ist, ein normales Zusammenleben von behinderten und nicht behinderten Kindern zu wünschen, so katastrophal ist es, wenn die Umsetzung in einer Mischung aus Sparzwang, Personalmangel und überbordender Bürokratie endet. Gerade am letzten Punkt ist die Veränderung gravierend. Wenn man sich beispielsweise früher eine Einrichtung für blinde und sehbehinderte Kinder vorstellt, dann war dort im Prinzip der Stapel der zu stellenden Anträge nicht niedriger, aber das Personal hatte im Umgang damit eine gewisse Routine und wusste einfach, welche Anträge an welche Stellen zum Symptompaket „blind“ gehören. Jetzt dürfen sich unterbesetzte Kindertagesstätten mit Anträgen für Autisten, Sehbehinderte, Rollstuhlfahrer, Gehörlose und alle anderen Arten von Behinderung befassen, bei denen sich die Mischung zwischen den Institutionen, die einzelne Leistungen erbringen und zahlen, jeweils unterscheidet. Irgendwie endet jeder scheinbare soziale Fortschritt im heutigen Deutschland in der Schaffung einer neuen bürokratischen Hölle.

Das kann der Paritätische natürlich nicht schreiben, weil das Gegenmittel schlicht lauten würde, das ganze Gestrüpp aus hunderten Trägern und Krankenkassen und Ämtern zu entsorgen. Das wäre schlicht nicht im Interesse des Verbands. Was aber an der Tatsache nichts ändert, dass hier, wie in so vielen anderen sozialen Bereichen, Mittel, die letztlich überwiegend aus Steuergeldern stammen, über so viele kleine, miteinander konkurrierende Strukturen geleitet werden, mit jeweils eigener Bürokratie, dass am Ende nur noch ein Bruchteil für die Erfüllung des eigentlichen Zwecks übrig bleibt.

Wobei da natürlich noch ein weiteres Problem hinzukommt, dass der Paritätische wieder benennen kann – die Unterschiede zwischen den Bundesländern sind extrem. Ob es zusätzliche Stellen gibt, wenn besonders viele Kinder Sprachunterstützung brauchen oder Inklusionskinder sind; wie stark der Schwund beim Personal ist, wie viele Bewerber sich überhaupt noch auf eine Stelle melden. Wer nichts weiter zu tun hat, kann ja mal versuchen, auf wie viele Varianten man bundesweit kommen kann, mit unterschiedlichen Fördervorgaben, Zuständigkeiten, multipliziert mit den verschiedenen möglichen Inklusionsfällen mal der Menge der bürokratischen Gegenüber. Man möchte gar nicht mehr darüber nachdenken.

Eines ist jedenfalls klar belegt: Im Vergleich zur letzten Befragung im Jahr 2021 haben sich die Verhältnisse in fast allen Bereichen weiter verschlechtert. Was letztlich bereits andeutet, dass trotz allem wohlfeilen Gerede, man wolle alle Kinder fördern, die frühkindliche Bildung sei ja so wichtig, im Grunde bereits abzusehen ist, wann die ersten Kitas gerade in den „Problemzonen“ schon allein wegen Personalmangels erst zusammengelegt und dann geschlossen werden müssen. Abbruchunternehmen Deutschland eben.

Anmerkung:

Vorstehender Beitrag von Dagmar Henn mit dem Titel „Kita-Bericht: Abbruchunternehmen Deutschland auch für die Jüngsten“ wurde am 9.6.2024 in „RT DE“ erstveröffentlicht. Die Seiten von „RT“ sind über den Tor-Browser zu empfangen.

Siehe auch die Beiträge

im WELTEXPRESS.

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