Die Künstler verkörpern Neo-Surrealismus und „Lowbrow“. Der bewusst im Kontrast zur der etablierten „Highbrow“ Kunst kreierte Begriff bezeichnet die in den späten siebziger Jahren in den USA entstandene Bewegung des Pop-Surrealismus. Die themenbezogenen Kapitelüberschriften wie „Pattern“ oder „Illustration“ verdeutlichen die Auflösung der klassischen Gattungen bei der „Young Contemporary Art“. Digitale Technik, Punk, Illustrationen, Comic – besonders in seiner japanischen Form als Manga und Anime – sind prägende Motive. Die Kombination scheinbar widersprüchlicher Stilrichtungen wie Japanoismus und amerikanischer Popkultur, gezielter Verkitschung und realistischer Porträtierung erschafft eine irritierende Dynamik. Graffiti findet in einen explizit politischen Kontext gesetzt seine Bestimmung als sozialkritisches Ausdrucksmittel und Kunstform. Deformierte Spielfiguren wie die Skulpturen Elizabeth McGraths künden vom Ende der Kindlichkeit.
Insbesondere das Schaffen der Künstlerinnen dokumentiert den Tod der Niedlichkeit. Es enthüllt das Dämonische unter Spielzeughüllen. Pervertierte Unschuld spricht aus schwanenhalsigen Trickgestalten. Verschnörkelte Muster verstricken sich zu unentrinnbaren Netzen. Die Künstlichkeit zelebriert die junge Avantgarde und enthüllt sie gleichzeitig als Scheinwelt. Was definiert diese „Young Contemporary Art“? Ist das Werk jung oder der Künstler und wie lange hält der flüchtige Begriff „Young“ in einer von Jugendwahn geprägten Kultur? Eine Antwort vermittelt am ehesten die Auswahl der vertretenen Künstler. Die verfremdeten Selbstporträts Cindy Shermans, Ron Muecks lebensechte Figuren, die grellen Popwelten eines Takashi Murakami – sie findet man genauso wenig wie Glenn Browns Bearbeitungen klassischer Motive oder Marnie Webers Plastiken. Sie sind zu anerkannt, um als „jung“ zu gelten. Der Schwerpunkt des Buches ist weniger Zeitgenössisches denn „Lowbrow“. Daher John Currins sexuell aufgeladene Motive und Martin Eders Gemälde, die von verdeckten Täter-Opfer-Beziehungen sprechen.
Fast kalkuliert eröffnet eine ganze Folge aufsehenerregender Bilder den Band. “The Upset” betrachtet man am Besten in folgender Reihenfolge: nach den Werken des ersten Künstlers die des letzten, dann des zweiten Künstlers, danach des vorletzten. Der Reihe nach betrachtet drohen die hochwertigen Anfangsdarbietungen den kritischen Blick auf die folgenden abzustumpfen. Vice versa machen die vielen unbedeutenden Produkte in den letzten Kapiteln borniert gegenüber den besseren. Danielle De Picciottos Zeichnungen auf den Seiten 112 und 113 fungieren als Trennlinie. Die letzten Kapitel “Pattern” und “Expressionism” sind die enttäuschendsten. Aaron Nathers Acrylmalerei ist ernüchternder Abschluss der wechselhaften Sammlung. Von Science-Fiction inspirierte Filzstiftbilder sind die erste Assoziation. Robert Hardgraves ausdruckslose Collagen, die an einen kolorierten Katalog erinnernden Bilder Susanne Kühns und Raymond Pettibons krakelige Schuljungenskizzen werden dem hohen Niveau der Gesamtpublikation nicht gerecht. Maike Abetz und Oliver Drescher (Seite 256 und 257) liefern verkitschte Buntstiftspielereien, welche präpubertären Malversuchen gleichen. Diese Werke sind so beliebig und austauschbar, dass sie den Betrachter emotionslos lassen. Hoffnungsschimmer sind Leopold Rabus embryonenartige Großkopfmenschen, verrenkt in sterile, plastische Landschaften (Seite 236 – 239). Nein, Jose Parla (Seite 218 – 221) ist kein Jackson Pollock, auch wenn er es gerne wäre. Seinem Actionpainting fehlt die Dynamik so essentielle Dynamik. Die farbenfrohen Mandalas von Dzine schmerzen in ihrer Bedeutungslosigkeit. Hier fehlt das Konzept, die zündende Idee, welche der Kunst ihre Faszination verleiht. Ärgerlich sind Michael Genoveses Aluminiumgravuren. In der Grundschule hat man so mit Kreide an die Tafel gekrakelt, nur besser. Sie läuten das Kapitel “Urban Art” ein. Immer hastiger blättert man vom Ende des Buches zum Anfang. Verfällt fast in Gleichgültigkeit und – halt! Sieben tierartige Köpfchen von Yoshimoto Nara (Seite 162 und 163). Einer sieht einem ins Gesicht. Seine “Hunde aus deiner Kindheit” stehen mit geschlossenen Augen auf Stelzen, die sie gleichzeitig am Boden festnageln. Die Seiten 156 bis 159 sind geschmückt mit den Bildern des Spielzeugdesigners Gary Baseman. Puppenhafte Niedlichkeit verzerrt sich ins Gespenstische. Das Stoffhäschen auf seinem “The special love of ChouChou” ist nur als solches verkleidet. Runde Tele Tubby Männchen vollziehen Gruppensex mit einer Frau. Pervers, großartig. Die Bilder schockieren und sind gleichzeitig irritierend anziehend. Man befindet sich im Kapitel “Charakter”.
Blätter man weiter von hinten nach vorn, rückt man unwillkürlich näher an die Seiten, verweilt länger über den Drucken. Schwarzen Spukgestalten (“Untiteld”, 143) folgen gesichtslose Wesen auf den Seiten 144 und 145. Mehr als einen kurzen Blick haben Blaise Drummonds Reh mit aufgemalter Zielscheibe (“Me and Bing down by the Palisades”) oder die verschwommenen Japanwelten Mokis nicht verdient. Aber auch nicht weniger. Von hier an wird es genial. Wieder die gehörnten Bocks- und Hirschmenschen der in Berlin lebenden gebürtigen Amerikanerin Danielle De Picciotto. “Till Death doth us part” zeigt die Wesen Hände haltend, vereint, obwohl der Tod sie schon getrennt hat. Wie Jagdtrophäen scheinen die Geweihe des Paares aufgehängt. Liest man von rechts nach links, verliert man sich in den faszinierenden Kreationen. “Lowbrow” heißt das erste, umfangreichste Kapitel. Kompliziert, provokant, hintergründig – das stille Versprechen der Moderne, neue Sicht- und Sehweisen zu eröffnen, erfüllt sich. Femke Hiemstra eröffnet “The Upset” mit einem auf einem abgetrennten Holzkopf stakenden Lemuren. “The Circus has left Town” heißt das ironisch-unheimliche Bild. Nein, der geniale Circus öffnet seine Tore. Die verstörenden Werke überwältigen in ihrer unvertrauten Bildsprache. Schauspielerin Christina Ricci in ihrer Rolle der Wednesday Addams sitzt mit einem Lamm beim Tee, welchen Einbalsamierungsalkohol ersetzt. Eine Seite zuvor hängt eine verführerische kindliche Fledermausmaskierte von einer Zirkusschaukel. Ein rosa gekleideter Hitlerjungen fährt Dreirad, der totenköpfige Eisverkäufer lockt unsichtbare Kinder. Statt Deutungsvorgaben konzentriert sich “The Upset” auf die Künstlerpersönlichkeiten. Ein Interview mit einem solchen eröffnet jedes Kapitel. Die Knappheit des erläuternden Textes ist sinnvoll. Mehr Informationen könnten nicht mehr erklären. Weniger Hintergrund verheißt mehr Interpretationsfreiraum, denn jeder Begleittext spiegelt letztlich die Ansicht des Verfassers wieder. Anliegen von “The Upset” ist nicht die Idealisierung des Lowbrow. Dies würde dem Prinzip der Stilrichtung zuwiderlaufen. Paradox des Lowbrow ist, dass es aufhört Lowbrow zu sein, sobald es etabliert, somit zu “Highbrow” geworden ist. Die Herausgeber Klanten, Heilige, Ehmann und Alonzo eröffnen mit ihrer Ausstellung in gebundener Form eine Kontroverse über zeitgenössische Kunst. “The Upset” sind genauso die Künstler wie die verwirrten Betrachter von deren Kreationen.
„Kunst im überlieferten Sinne gibt es nicht mehr. Nur kurzlebige modische Einfälle." Giorgio De Chiricos lakonischer Kommentar zur zeitgenössischen Kunst fügt sich perfekt zu dem spöttischen, oft selbstironischen Humor des „Lowbrow“. Doch die Bewegung ist keine Modetorheit, sondern Sprachorgan der Avantgarde. Klassik war einst zeitgenössisch. Die Moderne von heute ist die Klassik von Morgen. „The Upset“ dokumentiert diese neue Stilwelt in all ihren strittigen, abwechslungsreichen, verunsichernden Facetten. Das Buch illustriert in Wort und Bild den Grundsatz von Zeitbezug und Kunst. Nicht eine Epoche definiert ihre Künstler, sondern die Künstler ihre Epoche.
Herausgeber: R. Klanten, H. Heilige, S Ehmann, P. Alonzo, Titel: The Upset – Young Contemporay Art, Erscheinungsjahr: 2008, Verlag: Die Gestalten