Die gute Laune verfliegt angesichts der Redundanz und Selbstgefälligkeit von “Mein halbes Leben”. Entgegen dem Titel breitet Regisseur und Hauptdarsteller Marko Doringer seine gesamte jämmerliche Existenz aus. Dass sich der Regisseur permanent beim Publikum darüber ausheult, ist verständlich. Als er den ersten Zahn verliert, überfallen Doringer (Marko Doringer) Lebenszweifel. Mit dreißig Jahren lebt er in einer unaufgeräumten Bude an der Berliner Oranienstraße. An seiner Zimmerwand hängt ein Stationsschild des naheliegenden Görlitzer Bahnhofs. Alle, die selbst in der Nähe gewohnt haben, haben jetzt das Recht zu rufen: eine miese Gegend! Nie wieder! Wer stolz ist, am Görlitzer Bahnhof zu wohnen, hat es nicht besser verdient. Doringers Lebensversicherung, sein Zahnimplantat und vermutlich diverse andere Rechnungen zahlen seine Eltern. Pläne für die Gegenwart hat Doringer nicht, geschweige denn für die Zukunft. Kein Wunder, dass die letzte Freundin sich von ihm trennte und er keine neue auftreiben kann. Und wenn er Kinder hätte? Besser nicht dran denken, was die durchmachen müssten.
Das Niederschmetternde an “Mein halbes Leben” ist, dass Doringer keine Ausnahme ist. Solche Typen können sogar im eigenen Bekanntenkreis plötzlich auftauchen: Ungepflegte Mittdreißiger, die immer noch bei Mami leben oder ihre Miete von den Eltern zahlen lassen, für die Arbeit das ist, was andere machen, und die nichts auf die Reihe kriegen. Ihre Freunde sind eigentlich Fremde, die sie irgendwann einmal oder nie so richtig kannten. Ständig brauchen sie Hilfe, ohne je anderen zu helfen. Als Doringers Kumpel Tom gefeuert wurde und mit jemandem reden wollte, hat der vorgebliche Freund ihn weggeschickt, berichtet Tom. Besonders unsympathisch macht sich der Regisseur durch sein Selbstmitleid. In dem zerfließt er förmlich, was ihm sein Bruder schließlich entnervt ins Gesicht sagt. Die interviewten Freunde und Verwandten sind nur Trabanten, die um den Dokumentarfilmer kreisen. Dabei ist deren Alltag weit interessanter, als das gähnende Nichts, welches Doringers Existenz auszumachen scheint. Allerdings nicht so interessant, dass es einen Abend füllenden Kinofilm rechtfertigen würde. Die anderen kriegen Kinder, arbeiten, haben Beziehungen. Ein vergleichbares Ensemble an Allerweltsmenschen ließe sich in jeder U-Bahn vorfinden. Am Görlitzer Bahnhof ist man ja schon.
Der eineinhalbstündige Dokumentarfilm wird in seiner gefühlten Dauer dem Titel gerecht. Eines leistet “Mein halbes Leben”: Er führt dem Zuschauer die eigenen Leistungen vor Augen. Wenn man es heute mit dreißig nicht geschafft hat, ist alles vorbei, lautet der Untertitel zu “Mein halbes Leben”. Hoffentlich trifft dies auf Doringer zu. Noch so ein Film wäre unerträglich. Daran, dass Doringer nichts erreicht hat, ändert sein blamables Machwerk nichts. “Ich bin Filmemacher und werde auch weiter Filme machen.”, droht der Regisseur im Interview. “Mein dreiviertel Leben” wartet schon.
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Titel: Mein halbes Leben
Land/Jahr: Deutschland 2009
Genre: Dokumentarfilm
Kinostart: 8. Oktober 2009
Regie und Buch: Marko Doringer
Mit: Marko Doringer
Länge: 97 Minuten
Verleih: Movienet Filmverleih
Internet: www.meinhalbesleben.de