Während man in den römischen Tavernen seinen Wein oder sein Bier in bar bezahlen musste, brauten in Germanien alle Haushalte selbst und man lud sich gegenseitig ein. Man hatte ja im Allgemeinen auch gar kein Geld, es sei denn, dass man mal irgendetwas an die Römer verkauft hätte, aber fühlte sich deswegen keineswegs arm, so lange man Land und Vieh sein eigen nennen konnte. Auch auf Reisen konnte der Germane immer mit kostenloser Bewirtung rechnen, denn das Gastrecht war ihnen heilig. Was rechte Idioten natürlich nicht wissen wollen, die Misshandlung von Gästen oder Schutzsuchenden galt ihnen als die denkbar größte Sünde, welche Wotan unnachgiebig mit dem Feuertod richtete.
Die Deutschen des Mittelalters tranken das Bier unablässig. Mit einem leichten Bier zum Frühstück fing der Tag an und endete mit einem starken zur Nacht. Was hätte man auch trinken sollen? Wasser war, wo kein Quellwasser zur Verfügung stand, infolge der mangelnden Hygiene oft stark mit Keimen belastet, während Bier infolge seines Alkoholgehaltes keimarm ist. Kaffee und Tee hatten noch lange nicht den Weg nach Europa gefunden und Wein war in den Gegenden, wo er nicht wächst, ein Luxusgut für die Reichen. Milch war, bei der damals vergleichsweise zu heute sehr geringen Milchleistung der Kühe, ein ziemlich wertvoller Rohstoff, der in der Regel lieber zu Butter und Käse weiterverarbeitet wurde, so dass allenfalls Magermilch als Alternative zum Dünnbier als Alltagsgetränk blieb.
Das Mittelalter kannte weder Alkoholiker noch Antialkoholiker. Alle Menschen waren in Ständen und Korporationen eingebettet, Zünften, Gilden, Bauerngemeinden, Mönchs- und Ritterorden etc. All diese hatten ihre eigenen Trinksitten, die in der Regel auf sehr reichliches Trinken hinausliefen. Antialkoholiker hätten sich vollständig gesellschaftlich isoliert, während nach heutigen Vorstellungen vielleicht alle Alkoholiker waren. Aber genau deshalb gab es eben keine Alkoholiker, im Sinne einer Krankheit, die die an ihr erkrankten zu einer stigmatisierten Minderheit macht. Natürlich musste auch gearbeitet werden und die mittelalterlichen Städte besaßen eine Sperrstunde und wer es zu bunt trieb mit dem Trinken, konnte dafür mal einen Tag an den Pranger kommen. Im Berliner Nikolaiviertel, am Nachbau der historischen Berliner Gerichtslaube, kann man eine mittelalterliche Prangerfigur, den Krag, eine Spottfigur aus Mensch und Vogel besichtigen.
Auch im frühen und im hohen Mittelalter gab es noch kaum Geldverkehr in unseren Landen. Erinnern Sie sich an das Märchen vom Hans im Glück! Dieser, ein wandernder Handwerksgeselle, hatte für einen Meister vier Jahre gearbeitet und verlangte, nun da er weiterziehen wollte, von seinem Meister ein Geschenk. War das nicht ganz schön dreist, ein Geschenk zu verlangen? Keineswegs! Er hatte all die Jahre offenbar nur gegen Beköstigung und Unterkunft gearbeitet und konnte nun einschätzen, dass er in all den Jahren für seinen Meister doch wohl einen gewissen Mehrwert geschaffen habe, für den noch ein Gegenwert aussteht. Allerdings gab es eben keine Tarifverträge und so konnte man auch keine Zahl als Geldsumme benennen und dann gab es eben ein Geschenk, im Werte etwas über den Daumen gepeilt.
Oder erinnern wir uns des Walther von der Vogelweide bzw. der anderen fahrenden Sänger. Wenn sie bei einer Burg eintrafen, wurde keine Gage ausgemacht. Sie erhielten Unterkunft und teilten die Tafel des Burgherren bzgl. Speis und Trank. Wenn sie weiterzogen, erwarteten sie ein Geschenk, in der Regel in Form von reichlich Proviant für die Reise und neuer standesgemäßer Kleidung, schließlich waren diese fahrenden Sänger ja in der Regel von Adel. Natürlich hätte der Burgherr die Geschenke auch verweigern können, aber das hätte ihm einen Boykott durch die fahrenden Künstler eingebracht und in einem Zeitalter ohne Radio und ohne Musikkonserven damit dauerhaften Verlust musikalischer Unterhaltung. Aus der altgermanischen Gastfreundschaft war jedoch eine ständische geworden: Dominikanermönche konnten nur in Dominikanerklöstern kostenlose Bewirtung erwarten, Angehörige einer Schmiedezunft nur bei den Schmiedezünften anderer Städte. Da es keine Personalausweise gab und auch sonst wenig Papiere, musste man sich durch Kenntnis der jeweiligen Trinksprüche und Trinksitten als Angehöriger einer bestimmten Korporation ausweisen können, um bewirtet zu werden.
Daneben existierte aber immer auch das von den römischen Tavernen herstammende Gast- oder Wirtshaus, in dem für die Bewirtung zu zahlen war. Allerdings gab es noch keine preisbedingte Klassenteilung der Bewirtung: In den wenigen Wirtshäusern trafen Edelmann und Bettelmann zusammen. An jedem der großen Tische wurde gemeinsame Rechnung gemacht und die reichsten der Anwesenden hatten den Löwenanteil zu bezahlen. Dazu bedurfte man keiner Kontoauszüge, die es natürlich noch nicht gab: Die Zugehörigkeit zu einem hohen oder niedrigen Stande erkannte man an der eben standesgemäßen Kleidung. Auch der Mittellose musste nicht dursten: Gastwirte waren verpflichtet, mittellosen Personen wenigstens ein Bier gratis auszuschenken.
Erst das späte Mittelalter brachte mit dem Siegeszug der Geldwirtschaft auch den der Gastwirtschaft über die Gastfreiheit unter Standesgenossen. Saßen in den frühen Gasthäusern die Gäste praktisch in der Küche des Gastwirtes fand nun eine Trennung von Küche und Gastraum statt. Die frühe Neuzeit brachte dann die Bar oder Theke, die der Gastwirtschaft die Form eines Verkaufsladens gab.
Die Neuzeit, vom Frühkapitalismus, über das Zeitalter der Industrialisierung bis hin zur heutigen spätkapitalistischen Gesellschaft, brachte eine Neubewertung des Genusses alkoholischer Getränke: Der Umfang und die Zahl von Arbeit und Tätigkeiten, die nicht nur Körperkraftentäußerungen darstellten, sondern die volle Aufmerksamkeit und damit Nüchternheit des Tätigen verlangten, nahm ständig zu. Zudem hatten Kaffee und Tee ihren Siegeszug als der Aufmerksamkeit und Wachheit förderliche Getränke ihren Siegeszug gehalten. Der öffentliche Rauschzustand fand damit immer mehr die Bewertung asozialen Verhaltens. Außerdem war im späten Mittelalter das Destillieren hochprozentiger Getränke erfunden worden und damit die Möglichkeit wirklicher Alkoholkrankheit.
Die hochprozentigen Getränke wurden vor allem von den untersten Schichten des Proletariats konsumiert. Nach 14- bis 16-stündiger Arbeit zog dieses in die Destillen, nicht um des Gemeinschaftserlebnisses, sondern um der schnellstmöglichen Erzielung jenes Rauschzustandes, der die elende Wirklichkeit vergessen ließ, schnellstmöglich eben, um noch ein wenig Schlafenszeit zu haben. Die Abstinenzlerbewegung kam aus Kreisen des mittleren Bürgertums und propagandierte die Abstinenz zur Lösung der sozialen Frage, denn, in Umkehrung des wirklichen Ursache-Wirkung-Verhältnisses, glaubten sie das Proletariat lebe im Elend eben wegen seiner Trunkenheit und nicht wegen der kapitalistischen Ausbeutung. Wie viele von diesen, die dem Proletariat das Wasser predigten, heimlich Wein tranken, sei dahingestellt. Die Großbourgeosie hatte sich unterdess ohnehin den Champagner und den Kognak angewöhnt.
Als sich aus der Zunfttradition in Deutschland beim Übergang zum Kapitalismus zunehmend die Arbeiterbildungsgesellschaften, die Gewerkschaft und schließlich die sozialdemokratische Partei als Organisationen der Arbeiterbewegung entwickelten, blieb man hier der zünftigen Tradition des Biertrinkens bei. Bier wurde der Saft der Sozialdemokratie. Das Proletariat aus den Destillen in niveauvolle Bierkneipen zu holen, eines ihrer erklärten Ziele. Die parteieigenen oder parteinahen Wirtshäuser wurden zu einer wesentlichen Stütze der Bewegung, konnten ihre Wirte doch problemlos Funktionen und Mandate ausüben, da kein Kapitalist sie entlassen konnte. In den kleinen Parteilokalen fanden die Versammlungen und Zahlabende statt, in den großen Gewerkschaftshäusern die Parteitage. Eine sozialdemokratische Abstinenzlerbewegung, die es auch gab, war aber angesichts dieser innigen Verbindung der Sozialdemokratie mit dem Bier in keinster Weise mehrheitsfähig. Dass sich mit der Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung nach 1918 auch eine Spaltung der Trinksitten ergeben hätte, ist nicht überliefert.
Bis hierher stellt das vorliegende Buch die Kulturgeschichte des Bieres ganz ausgezeichnet dar. Leider lässt es aber zwei Aspekte der neueren Zeit außer Acht: Das Biertrinken in der DDR und das gigantische Kneipensterben im ehemaligen Ostberlin, nach der, leider kapitalistischen, Wiedervereinigung. Tragen wir also hierzu kurz etwas nach.
Da die SED als führende Partei der DDR, wie zwangsweise oder freiwillig auch immer, mit SPD und KPD aus zwei Biertrinkerparteien hervorgegangen war, liegt es auf der Hand, dass die regelmäßige Versorgung des Proletariats mit preisgünstigem Bier zu den unhinterfragbaren Aufgaben ihrer Politik gehörte. Auf diesem Gebiet ist es ihr auch immer gelungen, Engpässe zu vermeiden. Der Gaststättenpreis für Bier lag nur um wenige Pfennige über dem Kaufhallenpreis, so dass sich deren Besuch buchstäblich jeder leisten konnte, was natürlich zu deren permanenter Überfüllung führte. Zwei Kehrseiten hatte die Medaille: Ca. 2/3 der Bierkneipen war von kulturell recht niedrigem Niveau. War die Auswahl an verschiedenen Sorten schon in der Hauptstadt relativ gering, so war sie außerhalb derselben oftmals gleich Null.
Zwar wurden mit der Restaurierung der alten Brauerei in der Schönhauser Allee zur Kulturbrauerei und jener in der Bergstraße zu einer Luxusgaststätte zwei wundervolle Kulturdenkmäler geschaffen, aber die typische Berliner Kneipenkultur, vor allem im Ostteil der Stadt liegt im Sterben. Im Ackerhallenkarree zwischen Brunnenstraße, Invalidenstraße, Ackerstraße und Torstraße verstarben nach der Wiedervereinigung sieben Bierkneipen, also im Prinzip erstmal alle. Eine davon wurde nach Jahren wiedereröffnet. Neu entstanden ist eine. Eine richtig typische Berliner Kneipe findet sich weit und breit nur noch in der Tucholsky-Straße. Das liegt an den hohen Bierpreisen in den Gaststätten verglichen mit dem Kaufhallenpreis, hauptsächlich verursacht durch die kapitalistisch bedingten hohen Geschäftsraummieten und der Verarmung der typischen Kundschaft durch Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung. Zwar braut man nicht zu Hause, aber man trinkt wieder zu Hause, bei gegenseitiger Einladung, also fast wieder wie bei den alten Germanen. Die Ökonomie des Schenkens ist ja auch zurückgekehrt. Heute sind es allerdings die Konzerne die vom Staat immerzu Steuergeschenke fordern und dann auch bekommen, bzw. die Banken, die sich vom Staat auf Kosten der Reststeuerzahler, welche mit Lohn- und Mehrwertsteuer den Staat finanzieren, ihre Spekulationsverluste abnehmen lassen.
Als 1990 der Kapitalismus scheinbar seinen Endsieg errungen hatte und der Mainstream glaubte, mit der Ausdehnung von kaitalbeherrschter Fassaden-Halbdemokratie und entfesselter Marktwirtschaft auf fast die gesamte Welt, wäre das Ende der Menschheitsgeschichte nahezu erreicht, schien dieser nur noch eine lohnenswerte Aufgabe geblieben: Der neue Mensch dieses Zeitalters sollte nicht nur grenzenlos flexibilisiert sein, sondern unbedingt auch noch Nichtraucher. Zwar haben die meisten denkenden Menschen inzwischen begriffen, dass die Geschichte durchaus noch lohnenswerte Aufgaben bereithält, als da seien nukleare Abrüstung, Klimaschutz, Erhalt der Biodiversität, Überwindung des Hungers und des Analphabetismus in vielen Ländern, auch dass die soziale Frage längst wieder aufgetaucht ist und die jüngste Krise die Frage nach der Überwindung des Kapitalismus neu aufwirft, aber die Antirauchkampagnen haben mittlerweile eine irrationale Eigendynamik entwickelt, wie seinerzeit die Abstinenzbewegung in den USA vor der Prohibition, welche den USA bekanntlich nur eines einbrachte: Eine Struktur des organisierten Verbrechens, die sich sofort auf andere Tätigkeitsfelder verlagerte, als der schäumende Gerstensaft wieder legal wurde und somit bis heute fortexistiert. Das idiotische Rauchverbot in Gaststätten wird der Berliner Kneipenkultur wohl endgültig den Garaus machen.
Staatliche Bestrebungen mit Sondersteuern, also einer Art Geldstrafen, den Bürgern Suff oder Qualm abzugewöhnen, schätzt der Autor folgendermaßen ein: „Und so haben auch die Fiskal-Strafen dem vermeintlichen Übel nicht den Garaus gemacht. Sie werden dem Staatssäckel zu Umfang, wenn auch nicht der allgemeinen Moral zum Aufschwung verholfen haben und verdeutlichen eben damit beispielhaft ein zentrales Dilemma der Drogenpolitik: einer Entwicklung oder Gewohnheit gegensteuern zu wollen, von der man abhängig ist. Es kann geradezu als Staatsräson bezeichnet werden, einen hohen Prozentsatz an Alkoholikern zu haben. Denn der Kern Steuer(!)politik, den Missbrauch von Allgemeingut finanziell zu bestrafen und damit auch moralisch und sozial zu verurteilen, enthält gleichzeitig die Notwendigkeit, diesen Missstand vorzufinden, um das finanzpolitische Funktionieren eines Staates zu garantieren.“
Gesamturteil zu diesem Buch: Empfehlenswert, gut lesbar und unterhaltend.
Jacob Blume: „Bier. Was die Welt im Innersten zusammenhält“, Verlag die Werkstatt GmbH, Lotzestraße 24a, D-37083 Göttingen, Email: info@werkstatt-verlag.de, ISBN 3-89533-278-X,