In der Tiefe – Maxim Gorkis “Nachtasyl” in der Box des Deutschen Theaters

Gorkis Stück ist gedrungen, zwingt den Betrachter hautnah an das Geschehen heran. Der Bedeutung seines selbstgewählten Pseudonyms Gorki – “der Bittere” – wird der als Alexej Maximowitsch Peschkow geborene Schriftsteller und Dramatiker mit keinem anderen Werk so gerecht. “Nachtasyl” straft den Traum von der Klassengleichheit, den der aufkommende Kommunismus versprach, von menschlicher Eintracht und Anteilnahme Lüge. Das “Nachtasyl” der Handlung ist ein schäbiges Elendsquartier. Auf zehn Figuren strich Regisseur Mehler das ursprünglich aus siebzehn Personen bestehende Ensemble zusammen. Sie hocken aufeinander, praktisch und figürlich. Ein verarmter Baron, ein Handwerker, ein Schauspieler – die einen sind heruntergekommen, andere durch Betrug oder Ausbeutung aufgestiegen. Auf einer Stufe zeigt sie Nehle Balkhausens Bühnenbild, doch einig werden sie nicht. Die Gesellschaftsklassen haben sich aufgelöst und jeder ist sich selbst der nächste. In ihre Unterkunft tritt für wenige Nächte der Vagabund Luka. Aus seinen schlichten menschlichen Handlungen, seinem Zuhören, Trösten und Ermutigen scheint ein wenig Hoffung unter den Bewohnern zu keimen. Doch auch sie wird zertreten von der psychischen Brutalität des Stücks.

Die jungen Akteure aus dem 2. Studienjahrgang der Universität der Künste legen ihre ganze Energie in ihre Bühnenfiguren: Gestrandete der Gesellschaft. Hoffnungslos und freudlos, ohne Zukunft und mit düsterer Vergangenheit. Selbst den Moment wollen sie auslöschen im Spiel, Alkohol oder Tod. “Lasst mich wenigstens in Ruhe abkratzen!”, krächzt die von ihrem Mann halbtot geschlagene Anna. Aus ihrem Todesröcheln spricht noch Hohn über die anderen, die weiterleben müssen. Trotzig droht ihr Mann der Sterbenden, sie werde schon weiterleben. Leben heißt im freudlosen Alltag der Unterkunftsbewohner “existieren“. Sinn oder Ziel ist ihrem Dasein abhanden gekommen. Sie drehen sich im endlosen Kreis der eigenen Schwächen. Der trunksüchtige Schauspieler zitiert immer wieder den gleichen Satz, der Baron betrügt unverbesserlich beim Kartenspiel. Nur einmal wird ausgelassen gelacht – im Alkoholrausch. Das Gelächter ist gleichzeitig Selbstverhöhnung. Denn Lukas Reden wecken flüchtige Hoffnung. Der alkoholsüchtige Schauspieler denkt an eine Entzugsklinik, der Dieb Waska daran, seine kaltherzige Geliebte Wasslilissa zu verlassen. Deren jüngere Schwester Natascha hat sich als einzige einen Rest Gefühl bewahrt, für ihre Mitmenschen und Waska, den sie liebt. Die mit dem Herbergsbesitzer verheiratete Wasslilissa versucht Waska zum Mord an ihrem Ehemann anzustiften. Ermuntert durch Lukas Worte möchte Waska mit Natasch fliehen. Doch aus der Hölle gibt es kein Entrinnen. Nichts anderes ist die Armenherberge in Gorkis Stück, die sich Asyl nennt, aber weder Zuflucht noch Schutz gewährt. Ein Ort ohne Freude, ohne Zuversicht, wird sie zum Sammelbecken für die Aussätzigen der Gesellschaft. Statt einander zu stützen, ziehen sich die Protagonisten weiter herunter. “Am Boden” lautet die wörtliche Übersetzung des russischen Titels. Nicht der materielle Abstieg der Menschen ist das Bedrückende des Textes, sondern der humane Verfall. Seelisch sind sie verhärtet, haben jede Anteilnahme verloren. Selbst Nataschas verbliebene Menschlichkeit wird erstickt. Am Ende tauscht sie ihre Ballerinas gegen die gleichfarbigen Absatzschuhe ihrer gewalttätigen Schwester, um so auch symbolisch deren Hartherzigkeit anzuziehen.

Mit dem stark gekürzten Text haben es die jungen Darsteller nicht leicht. Jeder fehlende Dialog hinterlässt eine Lücke im Stück. Dennoch verstehet es die Inszenierung, Gorkis realistischen Alptraum in ein modernes Gefüge zu versetzen. Statt der Verlebtheit der Originalcharaktere vermitteln die Schauspieler eine verrohte Jugend. Perspektivlos starren sie vor sich hin. Es gibt kein Aufbegehren, keine Bewegung. Ihre zaghaften Träume töten die Figuren gegenseitig ab. Alles erstarrt in unabänderlicher Monotonie. Aus der psychischen Isolation der Asylbewohner wächst Verachtung und Gewalt. Das eigenständige Wachsen einer Gemeinschaft machen sie unmöglich. Ihre innere Leere versuchen sie mit Alkohol zu betäuben. Statt aufgrund ihres ähnlichen Schicksals Sympathie untereinander zu entwickeln, verspotten sie sich in grausamen Scherzen. Ein verknoteter Haufen Gliedmaßen, der kaum Menschliches an sich hat. Tritte, grundlose Schläge, Zuckungen, die an Kopulation erinnern. Zu Zärtlichkeit sind die Bühnengestalten unfähig. Ihr spärlicher Trost ist das Elend der anderen. “Wenn ´s allen schlecht geht, muss man sich nicht aufregen.”, heißt es einmal. Ob tot oder lebendig wird in dem tristen Szenario bedeutungslos. Annas Leiche liegt bis zum Schluss auf der Bühne. Die lebenden Bewohner kriechen über sie hinweg wie ein lästiges Möbelstück. Ein Begräbnis kostet Geld und davon haben die Übriggebliebenen selbst zu wenig.

“Stockfinster ist die Nacht.”, summt der Landstreicher Luka vor sich hin. In die Nacht stiehlt er sich unvermittelt davon. Sein Reden von Hoffnung und Trost entpuppt sich als fadenscheinig, als unrealisierbar zumindest, denn an den Bewohner geht es spurlos vorüber. Ob Luka ein Heuchler ist, ein Phantast oder schließlich Desillusionierter bleibt wie im Originaltext offen. Das Niederschmetternde an Gorkis Menschenporträt ist, dass keine positive äußere Kraft die Individuen verändern kann. Ihre Sturheit macht eine Wendung zum Besseren für die Bewohner selbst und ihr Umfeld unmöglich. Statt eine Vision zu präsentieren, mündet Gorkis “Nachtasyl” in Pessimismus. Von seinem verstörenden Realismus hat es nichts eingebüßt. Die jungen Akteure in der Box verkörpern eine Darstellergeneration, die dem Text ein neues, modernes Gesicht verleiht. Die Nacht herrscht nicht nur außerhalb der Herberge, sie erstreckt sich auf die Seele ihrer Bewohner. Für einen Abend kann man in der Box in diese Nacht eintauchen.

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Titel: Nachtasyl von Maxim Gorki

Theater: Box des Deutschen Theaters

Regie: Christopher Mehler

Bühne: Nehle Melkhausen

Darsteller: Anne Abendroth, Karen Dahmen, Richard Erben, Eva Kessler, Jacob Plutte, Leon Schröder

Weitere Termine: 24. April, 20.30

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