Das gleichmäßige leichte Schaukeln während der Fahrt macht schläfrig. Die eintönige Landschaft, die draußen vorbeizieht, trägt auch ihren Teil dazu bei. Plötzlich verändert sich das Bild, das uns über Stunden begleitet hat. Statt Wald und Gestrüpp tauchen neben der Straße Reklameschilder auf, groß wie eine Kinoleinwand: Hotel mit Wasserbetten, nur Minuten von Downtown entfernt; eine junge Dame bietet rotbackige Äpfel an: Canada Number One; Sightseeing in nostalgischen Booten bei Mondschein. Die Angebote scheinen endlos zu sein. Wir sitzen bequem im Greyhound Bus und genießen es, nach stundenlanger Reise, durch nicht enden wollende Wälder und karges Hochland, wieder auf etwas Zivilisation zu stoßen. Die großen Entfernungen fordern Geduld, auch im „Wilden Westen“, in der westlichsten Provinz, Britisch Kolumbien. Kelowna im Okanagan – Valley ist unser nächstes Ziel. Die Stadt mit über 110.000 Einwohnern liegt auf halber Strecke zwischen Penticton und Vernon am Ostufer des Okanagan Lake. Auf ca. 120 Kilometer Länge liegt er fjordähnlich zwischen Obstgärten und bewaldeten Ufern. Hätte es nicht unzählige fleißige Hände gegeben und moderne Bewässerungsmöglichkeiten, wäre das Tal immer noch ein Teil des umliegenden Wüstengebiets.
Deutsche Winzertraditionen
Mit Kennerblick betrachtet unser Freund die Gold schimmernde Flüssigkeit im Glas. Ein tiefer Atemzug verrät ihm die Geheimnisse des Aromas. Aber ganz sicher ist er erst nach einem kräftigen Schluck, der in jedem Gaumenwinkel ausgekostet wird. Peter strahlt und füllt mit elegantem Schwung unsere Gläser: „Enjoy it!“ Der letztjährige Riesling ist bereits jetzt ein Genuss. Peters Großeltern, von Beruf Winzer, verließen Deutschland nach dem Krieg, um sich in Kanada eine neue Existenz aufzubauen. Der Anfang war nicht leicht, zumal die kanadische Weinerzeugung noch in den Kinderschuhen steckte. Doch bald waren sie mit der Bodenqualität und den klimatischen Bedingungen vertraut, und der Erfolg stellte sich ein. Peter ist inzwischen schon ein richtiger Kanadier. Von der deutschen Sprache kennt er nur noch ein paar Worte. Auf seinem Weingut kann man in gemütlichen Zimmern übernachten, die mit allerlei Antiquitäten möbiliert sind. Ein Ambiente, das bei Bed and Breakfast zum guten Stil gehört.
Dank des ausgeglichenen Klimas entwickelte sich der Weinanbau im Okanagan Tal sehr erfolgreich. Kanadischer Wein hat sich bei Kennern einen Platz erobert. Bald schon schätzten Besucher die Region mit den idyllisch gelegenen Weinbergen entlang des Okanagan Sees. Die 320 km lange „Wine Route“ führt von Salmon Arm weit bis in den Süden nach Osoyoos, nahe der amerikanischen Grenze. Wissenswertes über den Wein erfährt man bei den unzähligen Angeboten, die jede Region für den Besucher bereit hält. Doch erst nach einer fachkundigen Weinprobe ist man mit dem Rebensaft richtig vertraut. Hinweisschilder laden entlang der Straße dazu ein. Oftmals begleitet sogar ein Chauffeur die Tour von Hotels aus, damit es wegen der Promille keine Probleme gibt. In Kanada gelten, was den Alkohol betrifft, sehr strenge Regelungen.
Turbane zwischen Apfelblüten
Das milde Klima lockt viele kanadische Senioren in diese Gegend, welche den harten langen Wintern in anderen Provinzen entfliehen. Dadurch stiegen die Immobilienpreise rascher als in anderen Teilen des Landes. Im Sommer ist der See bei angenehmen Badetemperaturen ein beliebtes Ausflugsziel für Wassersportler, die mit allerlei Fahrzeugen unterwegs sind. Dementsprechend lebhaft geht es auch an den Stränden zu. Doch der Eindruck eines Schlaraffenlandes, in dem alles wächst und gedeiht, trügt. Das Tal liegt im Regenschatten der Küstenkordilliere, die Niederschläge betragen weniger als 400 Millimeter im Jahr. Dort, wo nicht künstlich bewässert wird, ist die Landschaft wüstenhaft, Salbeigewächse und Kakteen gedeihen prächtig. Schon vor Ankunft der Weißen genossen die Salish –Indianer die Vorzüge dieses Landstriches. 1811 errichtete die North West Company an der Mündung des Okanagan River in den Columbia einen Außenposten. Den Pelztierjägern folgten Goldgräber, Viehzüchter und Siedler. Der Missionar Charles Marie Pandosy pflanzte schließlich Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten Apfelbäume. Zwischen den endlosen Reihen von Obstbäumen tauchen immer wieder Turbane auf. Exotisch gekleidete Inder verrichten die Arbeit auf den Plantagen: Bäume zurückschneiden, gegen Ungeziefer spritzen, die reifen Früchte pflücken und zuletzt auch den Verkauf. Viele Vertriebsgesellschaften sind bereits in indischer Hand. Kanada ist als Einwanderungsland nun mal ein Vielvölkerstaat.
Klagerufe von der Grasinsel
Ein letzter prüfender Blick auf das Gepäck im Boot: Picknickkiste, Paddel, Schöpfkelle, Seil, Schwimmwesten. Wir sind vorschriftsmäßig mit allem ausgerüstet. Das Kanu scheint sicher im Wasser zu liegen. Wir bringen die etwas wackelige Ablegeprozedur hinter uns und schon geht’s los. Weg von der Straße, weit weg von den öffentlichen Stränden sind wir unterwegs auf einem der kleinen Seen des Okanagan Tales. Die Sonne scheint bereits recht kräftig um diese Jahreszeit. Als nach einer gewissen Zeit die Armmuskeln von der ungewohnten Tätigkeit schmerzen, steuern wir einen Rastplatz an.
Plötzlich schreckt uns der intensive Klageruf einer Loon auf. Das schwarz – weiß gemusterte Gefieder des kanadischen Eistauchers glänzt in der Sonne. Dann erhebt er sich unbeholfen in die Luft, nimmt Kurs auf unser Kanu und landet mit aufgeregtem Flügelschlagen vor dem Bootsbug. Ein ungewöhnliches Verhalten für den sonst scheuen Vogel. Doch dann entdecken wir den Grund für die Scheinattacke. Auf einer Grasinsel, nah am Ufer, gut versteckt, ist ein Nest. Neugierig recken sich zwei flaumige Hälse, um die Ursache der Aufregung zu erkunden. Schleunigst umpaddeln wir das Brutgebiet, um die Tiere nicht zu stören.
Auf dem Rastplatz treffen wir andere Kanuten. Die Boote ruhen am Ufer, während es sich die Besatzung an den Holztischen bequem macht. Nach der Paddelei sind wir froh über die mitgebrachte Verpflegung. Es muss ein Kanadier gewesen sein, der die voluminöse Picknickkiste erfunden hat. Während wir bescheiden unsere belegten Brote auspacken, findet am Nachbartisch eine wahre Picknickorgie statt. Aus der gut isolierten Plastiktruhe kommen mehrere Pakete Toastbrot, Wurst, Käse und Getränke zum Vorschein. Ein halbes Dutzend Flaschen mit verschiedenen Gewürzsaucen fehlen ebenso wenig wie Relish und Salsa, was köstlich zu Kartoffelchips schmeckt. „What a beautiful day!“ kommt die auffordernde Feststellung vom Nachbartisch. Da wir der gleichen Meinung sind, winken wir freundschaftlich zurück. Es dauert nicht lange, da sind wir schon in ein Gespräch verwickelt.
Eine Stunde Heimweg liegt noch vor uns. Es wird Zeit, dass wir aufbrechen. Mit einem herzlichen „Bye, bye, take care“ werden wir verabschiedet. Ob Peter wohl noch einen 98er Weißherbst für uns kalt gestellt hat? Liegt es am Rückenwind oder an der verlockenden Vorstellung auf ein gemütliches Abendessen, die unseren Paddelschlag beschleunigt? Die Fahrt im Licht der untergehenden Sonne vergeht wie im Flug.
Informationen:
Die Lufthansa fliegt von Deutschland im Gemeinschaftsdienst mit der Air Canada täglich nonstop nach Vancouver. Von hier sind es ca. 300 km nach Kelowna; www.lufthansa.de
Reisebeispiel:17tägige Rundreise Klassisches Westkanada mit folgenden Inklusivleistungen wie Linienflug ab/bis Deutschland, Rail & Fly, 16 Übernachtungen in guten Mittelklassehotels, Mietwagen für den ganzen Zeitraum, Fähre Vancouver/Vancouver Island und zurück, pro Person im Doppelzimmer ab € 2296. Weitere Auskünfte unter www.dertour.de bzw. per Tel.: 01805-337666, 14 ct./min aus dem Festnetz, maximal 42 ct/min vom Mobiltelefon. Weitere Kanadareisen verschiedenen Zuschnitts werden von diesem Veranstalter angeboten.
Reisebücher: Im renommierten Kunth-Verlag/München erschien soeben der Photo Guide Western Canada. Hier werden (zwar auf Englisch, was für Kanadareisende kaum ein Problem sein wird) die besten Fotomotive und Standorte anhand von prächtigen Beispielen aufgelistet. 224 Seiten, ca. 15 x 21 cm, flexibel, € 14,95 ISBN 978-3-89944-590-9 www.kunth-verlag.de , darüberhinaus gibt es aus diesem Verlag in der Reihe Faszination Erde für nur € 19,95 einen großen Bildband über Kanada mit integriertem Atlas.
Allgemeine Informationen über Kanada sind erhältlich bei Lange Touristik-Dienst, Postfach 200247, 63469 Maintal, Tel.: 01805 – 526232 oder unter www.travelcanada.ca