Die „Policia Federal“ fährt mit Blaulicht vor uns und gebraucht ihren Dodge Charger gerade als Pace Car. Den Uniformierten scheint die Serpentinen-Hatz reichlich Spaß zu machen. Denn ein solch seltenes Auto wie der Mercedes SLS AMG taucht vermutlich nie wieder in ihrem Rückspiegel auf. Und statt die Kelle herauszuhalten und uns ein Ticket aufzubrummen erscheint eine Hand aus dem Fenster und winkt uns durch. Schneller bitte! Have fun! Ein Tritt aufs Pedal und unser Flügeltürer „fliegt“ vorbei. Mexiko, wir lieben dich.
Die Fahrt im neuen Topmodell von Mercedes führt nicht ohne Grund hier entlang. Es ist eine Begegnung mit der Vergangenheit, eine Begegnung mit einem spektakulären Stück Renngeschichte. Denn die Stuttgarter Autobauer feierten im November 1952 in Mexiko einen der größten Erfolge ihrer Marke, den Doppelsieg bei der berühmte Carrera Panamericana – und dies beim Debüt des legendären Langstreckenrennens. Nach 3313 Kilometer in der Hitze Mexikos gewannen Karl Kling und sein Copilot Hans Klenk in einem 300 SL Flügeltürer. Der Sieg ist umso bemerkenswerter, weil den beiden nicht nur eine Armada an Ferrari im Nacken saß, sondern auch weil ihm ein legendärer Unfall voraus ging. Bei einem Tempo von 200 km/h schlug ein Geier durch die Frontscheibe des Wagens und verletzte Klenk am Kopf. Neben einer neuen Scheibe montierten die Mechaniker daraufhin acht Gitterstäbe, um Fahrzeug und Fahrer vor ähnlichen Kollisionen zu schützen. Die Stäbe sind bis heute einzigartig und gaben diesem Renn-SL den Namen „Geier-Wagen“.
Die Carrera Panamericana war ein Rennen über öffentliche Straßen, ähnlich wie in Italien die Mille Miglia oder auf Sizilien die Targa Florio (Porsche verwendet bis heute Carrera und Targa als Modellbezeichnung). Sie verlief von der südlichen Grenze Mexikos rauf nach Norden bis nach Texas/USA, manchmal auch in entgegen gesetzter Richtung. Fünf Mal, zwischen 1950 und 1954, wurde sie ausgetragen und dann angeblich wegen zu vieler tödlicher Unfälle eingestellt. „Das Tempo war für die damalige Zeit extrem hoch“, erinnert sich Hans Herrmann, der 1954 auf einem Porsche den 3. Platz belegte. Das Mercedes-Siegerteam Kling/Klenk fuhr eine Durchschnittsgeschwindigkeit von unglaublichen 165 km/h – in Relation zur geringen Motorleistung (rund 170 PS), den schlechten Trommelbremsen, den dünnen Diagonalreifen und dem primitiven Fahrwerk eine wahre Meisterleistung. Besonders aus der Hightech-Perspektive eines SLS AMG.
In dem Boliden steckt alles Können von Mercedes. Es ist der erste Wagen der Stuttgarter mit einer Aluminium-Spaceframe-Karosserie, der erste, der komplett von der Tochter AMG entwickelt wurde, der erste mit einem Siebengang-Doppelkupplungsgetriebe, der erste mit einem Trans-Axle-Prinzip, bei dem das Getriebe aus Gewichtsgründen nicht mehr vorn am Motor, sondern an der Hinterachse sitzt. Im Bug steckt ein Achtzylinder-Sauger mit strammen 570 PS und 650 Newtonmeter Drehmoment, fähig den SLS in nur 3,8 Sekunden von Null auf 100 km/h zu katapultieren und Überholvorgänge auf wenige Sekunden zu reduzieren. Und trotzdem: So geschmeidig der SLS Streckenteile der Carrera Panamericana auch unter die Räder nimmt, so handlich und präzise er sich durch die Kurven dirigieren lässt, die fahrerischen Fähigkeiten der damaligen Rennfahrer bleiben einfach unglaublich. Selbst wenn es in Fall Mexiko „sportliche Schützenhilfe“ durchs Militär gab. „Zig tausend Soldaten waren entlang der Strecke postiert und hatten dafür zu sorgen, dass weder Menschen noch Hunde und Esel auf die Fahrbahn liefen“, sagt Hans Herrmann, „sonst hätte wir dieses Tempo nicht fahren können. Solch eine Art von Rennen kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.“
Wir versuchen es zumindest, versuchen, den Mythos der Carrera Panamericana ein wenig ins Cockpit des SLS wehen zu lassen – so weit dies mit Leder, Luxus und angenehm gekühlter Luft überhaupt möglich ist. Besonders der südliche Abschnitt, die legendäre M190 zwischen Oaxaca und Santo Domingo Tehuantepec mausert sich mit jedem weiteren Kilometer zu einem Eldorado für Sportwagen. Endlos schlängelt sich hier das Asphaltband durchs Gebirge, hin und wieder nur unterbrochen durch kleine Dörfer, deren beste Zeiten längst vorbei sind. Die einstige Romantik wurde durch hässliche Zweckbauten zerstört. Oft stellt die Kirche das noch einzig historische Gemäuer dar. Frauen und Kinder in primitiven, aus Holz gezimmerten Verkaufständen bieten Maisfladen, Hühnchenfleisch und Getränke an. Ausgeschlachtete Autos und Lkws stehen am Straßenrand, dazwischen zockeln Bauern mit ihren Eselskarren. Alte sitzen im Schatten der Bäume. Vielleicht waren einige von ihnen damals beim Carerra Mexico dabei, vielleicht haben sie sogar an der Strecke den Rennwagen von Kling und Co zugejubelt, sie angefeuert.
Jetzt beobachten sie nur anteillos, wie wir mit dem SLS AMG behutsam über die gelb bemalten „Reductors“ kriechen, jene Betonschwellen, die sich in Mexiko, wo immer ein paar Häuser stehen, quer über die Straße spannen und jeden Autofahrer gnadenlos in den Kriechgang zwingen. Wer die „schlafenden Polizisten“, wie sie hier genannt werden, übersieht, riskiert eine zerstörte Vorderachse oder eine aufgerissene Ölwanne.
Unser SLS AMG kommt unverehrt ins Ziel und wird danach seine Rückreise nach Deutschland antreten. Da er für Mercedes als so genanntes Vorserienmodell gilt, darf er später nicht einmal als Gebrauchtwagen verkauft werden, sondern bleibt bei den Ingenieuren im Versuch. Seine neu produzierten Brüder gehen dieser Tage in den Handel, zu Preisen ab 177 310 Euro. Das ist nicht gerade wenig, doch für die potenziellen Kunden wohl ein Schnäppchen, zumal der Flügeltürer eine neue Ikone unter den Sportwagen werden kann und erheblich mehr Charisma besitzt und mehr Stil verkörpert als dies seine Gegner tun. „Die Nachfrage ist gigantisch“, freut sich AMG-Geschäftsführer Volker Mornhinweg, bedauert aber gleichzeitig, dass dadurch deftige Lieferzeiten entstanden sind. „Wer jetzt ordert, muss mindestens bis Ende 2011 auf die Auslieferung warten.“ So etwas ruft Spekulanten auf den Plan. Zwar wäre es für Mercedes ein Leichtes gewesen, den SLS AMG von Anfang an wesentlich teurer zu positionieren, doch „wir wollen dieses Auto auch auf der Straße sehen“, sagt Mornhinweg, „und nicht, dass es bei reichen Sammlern in der Garage steht.“