Kühle umgibt Agnes (Sylvana Krappatsch). Gegen ihre reservierte Ausstrahlung ist sie machtlos. Irgendwie weiß sie, dass diese äußerliche Kälte da ist, ihre Tochter und schließlich auch ihren Ehemann Walter (Samuel Finzi) von ihr entfremdet. Wie zur Wiedergutmachung lässt sie sich von ihrer kleinen Schwester Karola (Jule Böwe) ausnutzen und hält ihren arbeitslosen Mann finanziell aus. Da bittet ihre Schwester sie, die Wohnung einer flüchtigen Bekannten zu hüten. Agnes ist fasziniert von dem privaten Raum, welcher sich ihr mit der Wohnung eröffnet. Immer mehr Zeit verbringt sie in der fremden Wohnung. Sie hört den Anrufbeantworter ab, öffnet Briefe, betrachtet Fotos. Die Bewohnerin ist verstorben, begreift Agnes. Doch deren Stelle hat sie eingenommen, ohne sich dessen vollkommen bewusst zu sein. Erst benutzt sie die Möbel, dann nimmt sie Essen aus der Küche. Als sie sich versehentlich damit beschmutzt, befleckt sie sich symbolisch mit der unbekannten Persönlichkeit. Der Fleck veranlasst sie, Kleidung der toten Frau anzuziehen. Die Verwandlung ist damit vollzogen, das neue Leben hat Agnes aufgesogen. Da betritt Bruno (Andre Jung) die Wohnung. Den Platz seiner Ehefrau Theresa, die immer nur Name bleibt, nimmt Agnes ein. In stiller Übereinstimmung verbringen die beiden die Nachmittage miteinander. Sogar auf ein Familienfest begleitet sie Bruno – als die andere. Doch ihr Doppelleben droht Agnes Kontrolle zu entgleiten. Es konfrontiert sie mit den unausgesprochenen Konflikten ihrer eigenen Existenz. In der Flucht in ein anderes Dasein findet sie Zugang zu ihren unterdrückten Bedürfnissen und Wünschen.
Ihre Aufopferung ist für Agnes Umfeld selbstverständlich geworden. Schon ein geringes Maß an notwendiger Selbstbezogenheit wird Agnes als Egoismus vorgehalten. Nichts hat sie gemein mit dem selbstgefälligen Möchtegernschrifsteller Walter. Seinen Minderwertigkeitskomplex versucht er zu kompensieren, indem er seine intellektuell überlegene Frau auf subtile Weise herabsetzt. “Ich freue mich doch, wenn du liest.”, spricht er zu ihr wie einem Kind. Selbstgefällig imaginiert er sich als potentieller Liebhaber der jüngeren Karola – ohne zu erkennen, dass diese nur ihre Schwester provozieren möchte. Infantil reagierte er, als er ihre Krimilektüre kritisiert. Selbst erfolglos, bewertet er das Werk anderer Autoren als minderwertig. Während er mühselig versucht, sich eine Kriminalhandlung für ein Buch zusammenzureimen, erlebt Agnes eine. Mit leiser Ironie kommentiert Drehbuchautorin Lola Rendl in ihrem Debütwerk das Geschehen. Einen Kriminalroman findet Agnes in der unbewohnten Wohnung, diese Wohnung wird wiederum zum Handlungsort eines psychologischen Krimis. Einem Hörspielkrimi lauscht Agnes zu Beginn des Films. Im nächsten Moment springt ein Selbstmörder vom Balkon vor ihren Wagen. Dass sie dessen Leiche überfährt, erwähnt sie beim Heimkommen nicht einmal. Unsentimental und ohne zu verurteilen inszeniert Rendl, was ihre Hauptfigur emotional verhärtet hat. Ihr Umfeld schließt Agens auf subtile, jedoch nachdrückliche Weise aus. Zwar gratulieren ihr Freunde und Schwester zum Geburtstag, das Festessen haben sie jedoch ohne Agnes eingenommen. Während ihr Mann den Tisch abräumt, machen sich die Gäste auf den Heimweg. Ohne ihr Zutun scheint Agnes Auftreten Signal zum Aufbruch. In ein anderes Leben schlüpfen, die Identität einer Frau annehmen, die von Liebhaber und Ehemann doppelt begehrt wird, ist für sie willkommene Flucht aus ihrer monotonen Existenz. Die intime Beziehung zu einem Unbekannten ist die Endreaktion Agnes’ auf ihre uneingestandene seelischen Einsamkeit. Der Fremde wird für sie zum ersehnten Vertrauten. Instinktiv spürt Bruno die Wärme unter der kalten Hülle von Agnes.
“Die Besucherin” wird die weibliche Hauptfigur nicht aus Mangel an Distanz, sondern aus einem Überfluss an dieser. Aus ihrer psychischen Isolation entrinnt sie in den geschützten Raum der unbewohnten Wohnung. Niemand in ihrem Umfeld bemerkt etwas von ihren Erlebnissen. Ihr intensives emotionales Ringen nimmt keiner ihrer Mitmenschen war, weder Ihre Kollegen noch ihre egozentrische Schwester Karola. Sylvana Krappatsch hat es nicht leicht, sich als Agnes gegen Jule Böwes neurotische Filmfigur durchzusetzen. In der Zurückgenommenheit ihrer Darstellung setzt sie einen Kontrapunkt zu Böwes temperamentvollem Spiel und transportiert die Verschiedenheit der Filmschwestern somit auf eine erweiterte Ebene. Es sind solche schauspielerischen Nuancen, die vom Gespür der Regisseurin für hintergründige Dramatik zeugen. Lola Rendl begleitet “Die Besucherin” auf ihrem Erspüren eines anderen Lebens. Gleichzeitig ist dieses eine Frage, ein “Was-hätte-sein-können?”. Vielleicht ein besseres Leben, kaum ein besserer Film.
* * *
Titel: Die Besucherin
Genre: Drama
Land/Jahr: Deutschland 2008
Kinostart: 14. Mai 2009
Regie und Drehbuch: Lola Rendl
Darsteller: Sylvana Krappatsch, Andre Jung, Jule Böwe, Samuel Finzi
Verleih: Filmlichter
FSK: Ab 12
Laufzeit: 104 Minuten