Grund genug, über ihn zu schreiben. „Wenn alle in eine Richtung sehen, dann drehe ich mich um und mache einen Film darüber, was ich dann sehe“ sagt er. Was der in Amerika geborene dann gesehen hat am 9. September 2001, als alle Welt und alle New Yorker auf die einstürzenden Wolkenkratzer guckten, war ein Push Cart Mann, also einer der zahlreichen Straßenverkäufer, die mit ihren mobilen kleinen Wägen Manhattan zu einem lebbaren Ort machen, indem sie Kaffee, Tee und Bagels anbieten.
Da bekam Bahrani die Idee, einen Film über das Schicksal eines solchen Mannes zu drehen, über dessen harten Alltag, seine Träume, seine Pflichten. Einen modernen Sisyphosmythos auf den schmutzigen Straßen New Yorks. Also suchte er nach einem geeigneten Darsteller, einem Menschen, der diesen Alltag kannte und ihn nicht nur spielte. Schließlich lernte er Ahmad Razvi in dessen kleinem Restaurant kennen. Er freundete sich mit ihm an und erfuhr, dass Ahmad jahrelang einen Push Cart hatte. Bahrani hatte seinen Darsteller gefunden. Ahmad verkörperte den gleichnamigen Ahmad so überzeugend, dass er in Thessaloniki vor genau neun Jahren mit dem Preis für den Besten Darsteller geehrt wurde.
Dies freute Bahrani sehr, doch ebenso sehr freute er sich darüber, dass das Publikum seinen Film so sehr liebte, dass er den begehrten Publikumspreis erhielt, der mit 5.000 € ausgelobt war und von Jameson Whisky gesponsert wurde – seitdem – erzählt er – trinke er nur noch Jamesons Whisky. Der Preis kam genau im richtigen Moment: Bahrani war pleite, wollte aber sofort sein nächstes Projekt angehen. Mit 5.000 € in der Tasche flog er nach New York, wo er nicht einmal eine Wohnung hatte, und überlegte am Flughafen, welchen Freund er anrufen würde, um bei ihm zu nächtigen. Übrigens inspirierten die streunenden Hunde Thessalonikis Bahrani zu seinem Kurzfilm DOGS (2005), den er in Thessaloniki drehte. Er handelt von Hunden, die träumend vor Kinos und auf öffentlichen Plätzen liegen. Da liegen sie noch immer, auch 2014.
Für sein Casting eines kleinen Straßenjungen, dem Hauptdarsteller von CHOP SHOP, sah er sich kurze Zeit später fast 2000 Jugendliche an, um schließlich den kleinen Alejandro (Polanco) zu finden, der sich in einem unwirtlichen Vorort von New York durchschlägt. Seinen Castinghelfern konnte Bahrani nicht sagen, dass er pleite und obdachlos war, sonst hätten sie sein Filmprojekt wohl nicht ernst genommen. Ab AT ANY PRICE (2013) arbeitet Bahrani mit professionellen Schauspielern, mit Dennis Quaid und Zac Efrom. Sie haben laut Bahrani den Vorteil, „dass man durch ihre Namen einfacher an eine Finanzierung kommt.“ Das ist sonst alles andere als einfach, denn Bahrani hat die Erfahrung gemacht „wenn ich nach Geld frage, ein Drama zu finanzieren, ist das in etwa so, als würde ich die Mutter desjenigen beleidigen, den ich um Geld bitte.“
Aber Bahrani lässt sich vom Filmemachen nicht abhalten, denn es ist seine Leidenschaft. Er studierte an der Columbia University in New York Filmtheorie, eine Filmhochschule mit praktischer Ausbildung hat er nie besucht. Das hat er sich alles selbst beigebracht. Seine ersten acht Kurzfilme produzierte er „für die Tonne“, danach wurde es besser. Sein erster offizieller Film MAN PUSH CART gewann immerhin in Thessaloniki zwei Preise, war in London, Venedig und auf dem Sundance Festival zu sehen.
Bahrani hatte das große Glück, zwei Menschen zu begegnen, die in seinem Leben und seiner Karriere wichtige Positionen einnehmen sollten. Der bekannteste Filmkritiker Amerikas, Roger Ebert, ‚entdeckte‘ ihn und hypte ihn. Bahranis zweitem langen Film CHOP SHOP (2007) wies Roger Ebert Platz 6 auf seiner Liste der besten Filme des Jahrzehnts zu – ein Lob, das Bahrani weltweit Achtung einbrachte. Über Roger Ebert lernte Bahrani den in Amerika als Kultfilmer gehandelten Werner Herzog kennen. Dieser lieh seinem Kurzfilm PLASTIC BAG (2009) seine unverkennbare Stimme mit dem ganz eigentümlichen und faszinierenden deutschen Akzent.
Sein Freund und Mentor Roger Ebert verstarb am 4. April 2013 mit 70 Jahren an einer Krebserkrankung. Eberts letztes Interview mit Ramin Bahrani kurz vor seinem Tode und die Liebeserklärung Bahranis an Roger Ebert sind hier zu finden, ebenso wie der wunderbare Kurzfilm PLASTIC BAG: http://www.rogerebert.com/interviews/interview-with-ramin-bahrani
In Thessaloniki präsentierte Bahrani seinen neuesteen Film 99 HOMES, der von der Immobilienkrise in den USA erzählt und davon, wie Menschen, die ihre Raten nicht mehr an die Bank zahlen können, von einem Tag auf den anderen vor die Tür gesetzt werden. ‚Cash or Keys‘ ist das fiese Mantra von Rick Carver (Michael Shannon), der skrupellos Familien, alte einsame Männer und andere Menschen obdachlos werden lässt. Dennis (Andrew Garfield) geht den Pakt mit dem Teufel ein und arbeitet die Raten für seine nun obdachlose Familie ab, um ihr Haus zurück zu bekommen. Das Thema ist aktuell und brisant. Das Drehbuch beruht auf umfangreichen Recherchen. Die Festivalrunde des Films hat gerade erst begonnen, im September war er bereits in Venedig zu sehen und kämpfte um den Goldenen Löwen, den dann aber der schwedische Regisseur Roy Andersson abstaubte für seinen Film A PIGEON SAT ON A BRANCH REFLECTING ON EXISTENCE. Auch Roy Andersson wurde eine Hommage in Thessaloniki gewidmet, bei der einige seiner Werke gezeigt wurden – aber davon ein andermal mehr”¦
Mehr Informationen über das Filmfest, das noch bis zum 9. November stattfindet hier: http://tiff.filmfestival.gr/default.aspx?lang=en-US&loc=19&page=1222
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Nana A.T. Rebhan arbeitet gerade an ihrem neuen Dokumentarfilm PRIMA MALLORCA, für den sie mehrmals nach Mallorca fliegt, um dort 40 Langzeitarbeitslose aus Mecklenburg Vorpommern langzeit zu beobachten, wie diese ein 12-wöchiges Praktikum absolvieren. Mehr davon bald im WELTEXPRESS.