Berlin, Deutschland (Weltexpress). Die Menschen, so der stellvertretende CDU-Vorsitzende Carsten Linnemann auf der Pressekonferenz zur Vorstellung des Programmentwurfs, seien „verunsichert, sie brauchen Orientierung und Halt“. Das soll das neue Programm bieten. Zu viel versprochen.
Er hat etwas von Pfeifen im Wald, der Entwurf des neuen CDU-Grundsatzprogramms. Das war nicht nur in der Pressekonferenz zu spüren, auf der dieser Entwurf vorgestellt wurde und in der ganz viel die Rede davon war, „Halt“ und „Orientierung“ zu geben, das findet sich auch so im Text, in dem ein klein wenig zu häufig von „Mut“, „Vertrauen“, „Zuversicht“ und „Zusammenhalt“ zu lesen ist.
Man merkt dem Entwurf an, dass er bereits vor einigen Jahren begonnen wurde, obwohl die versteckte Unsicherheit eher aus der jüngeren Vergangenheit stammt. Natürlich werden einige Häppchen geliefert, die attraktiv wirken sollen – Begrenzung der Migration beispielsweise, oder eine Wiederbelebung des Begriffs der Leitkultur, oder eine Ablehnung der Identitätspolitik. Aber sobald man die Formulierungen des Entwurfs mit der Wirklichkeit abgleicht, werden die grundsätzlichen Widersprüche aktiviert, die nicht nur in diesem Programmentwurf, sondern eigentlich von Anbeginn in der Partei selbst stecken, die aber in der Gegenwart weit bedeutsamer sind, als sie es jahrzehntelang waren.
Die CDU ist von Anbeginn ein Zwitter aus deutschen Konservativen und transatlantischen Antikommunisten, zusammengezwängt von Konrad Adenauer und seinem Ziel der „Westbindung“ (die CDU des Ahlener Programms war noch mal etwas Anderes). Der konservative und der transatlantisch-antikommunistische Teil sehen vielleicht an vielen Punkten gleich aus, unterscheiden sich aber gerade in der Frage des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft sehr. Verstärkt werden diese Unterschiede noch durch den Neoliberalismus, der viele Teile dieses Programmentwurfs prägt, der im Kern mit einer originär konservativen Orientierung nicht kompatibel ist.
Nehmen wir einen Absatz vom Anfang: „Aus dem christlichen Menschenbild wird für uns gute Politik, wenn sie von der einzelnen Person ausgeht und individuelle Freiheit mit Verantwortung für andere verbindet. Diese Vorstellung unterscheidet uns von einem libertären Individualismus, bei dem allein der individuelle Freiheitsanspruch im Vordergrund steht. Sie unterscheidet uns ebenso von einer identitätspolitischen Betrachtungsweise, die ein Gemeinwesen in einander gegenüberstehende Gruppen aufspaltet sowie von sozialistischem, nationalistischem und völkischem Denken, das dem ideologisch begründeten Kollektiv den Vorrang vor den einzelnen Menschen gibt.“
Der letzte Teil, der mit dem Vorrang des Kollektivs vor dem Einzelnen, ist ein Fragment ganz klassischer transatlantisch-antikommunistischer Propaganda aus den 1950ern, ein Versatzstück, das nach dem Ende der DDR mit Begeisterung wieder hervorgeholt wurde, das aber zwei Punkte übersieht, mit denen es in Widerspruch zum Konservatismus gerät: Zum einen sind zumindest größere Teile der christlichen Traditionen auch auf die Gemeinde, nicht primär auf das Individuum fokussiert (anders wäre es nie zu Ordensbewegungen gekommen), zum anderen ist der Begriff der Nation entweder etwas, was über dem Individuum steht, oder er ist nicht.
Normalerweise wäre dieser inhaltliche Konflikt eine Frage, die höchstens für politikwissenschaftliche Seminare Relevanz besitzt; aber das tiefe Unbehagen, das nicht nur die CDU, sondern tatsächlich die gesamte Gesellschaft durchdringt, ist die Folge genau der neoliberalen Variante von Individualismus wie der durch die entsprechende Politik ausgelösten Zerstörung kollektiver Strukturen – zu denen auch Sportvereine und Volkstanzgruppen gehören, die wiederum auf kultureller Ebene das Konservative gewissermaßen definierten. Sprich, das Unglück liegt genau auf dieser Bruchlinie, die der Entwurf so weit wie möglich zu verbergen sucht.
Dieser innere Widerspruch zeigt sich natürlich auch auf anderen Feldern. So wird im Abschnitt zur Wirtschaftspolitik zwar die „soziale Marktwirtschaft“ referiert, der dadurch einst geschaffene Wohlstand gepriesen, und ja, „das Wohlstandsversprechen“ erneuert, aber praktisch das neoliberale Schema weiter fortgesetzt, das nun einmal etwas ganz Anderes ist. Ein einfaches Beispiel dafür: An einer Stelle heißt es, „wir lehnen eine Politik, die auf weniger Wachstum und einen leistungslosen Wohlstand setzt, ab“, aber weiter hinten wird eine Besteuerung großer Erbschaften abgelehnt, weil man „Familienunternehmen […] in der Erbfolge nicht in der Substanz belasten“ wolle, und eine Vermögenssteuer ebenfalls. Dabei handelt es sich in beiden Fällen vielfach eben genau um „leistungslosen Wohlstand“.
Der Kontakt mit der Wirklichkeit ist, wie gesagt, problematisch. Es wird von Entbürokratisierung gesprochen, aber es wird sogar die Bereitschaft angedeutet, weitere Kompetenzen an die EU abtreten zu wollen (bis hin zu einem „europäischen FBI“), obwohl gerade die EU ein Motor der Bürokratisierung ist. Auch hier hat man den Eindruck, die realen Entwicklungen spielten für die Erarbeitung des Programms keine Rolle. Arbeit solle sich lohnen, es ist die Rede von der Bedeutung des Handwerks, auch von der der bäuerlichen Landwirtschaft („eine von Kapitalinvestoren bestimmte Landwirtschaft lehnen wir ab“), aber der Motor der entgegengesetzten Entwicklung, die EU, wird dargestellt, als sei alles gut.
Typisch neoliberal ist beispielsweise die Forderung, das Rentenalter mit steigender Lebenserwartung zu erhöhen; ein Detail, zu dem vielleicht einmal die Studien zu den bedeutenden Unterschieden zwischen Arm und Reich bei der Lebenserwartung konsultiert werden sollten. Was wohlgemerkt rein gar nichts mit der Frage zu tun hat, wer in seinem Arbeitsleben mehr geleistet hat.
Hübsch ist auch „Wir wollen unsere Ernährungssouveränität und den Bedarf an nachwachsenden Rohstoffen zu bezahlbaren Preisen sichern“. Praktisch ein Widerspruch, wie man in einigen Regionen des Landes sinnlich erfahren kann – auf einem Acker wachsen eben entweder Kartoffeln oder Biomasse. Bei einer Importabhängigkeit von 80 Prozent bei pflanzlichen Nahrungsmitteln kann man jedenfalls nicht von „Ernährungssouveränität“ reden.
Klar finden sich eine ganze Reihe von CDU-Klassikern in diesem Entwurf. Mehr Bundeswehr, Einsatz im Inneren eingeschlossen, mehr Sicherheit, mehr Verfassungsschutz (worüber man vielleicht angesichts der Kapriolen des grünen Parteigeheimdienstes doch vorsichtiger hätte nachdenken sollen), weniger Datenschutz, Migrationsbegrenzung (auch wenn die praktische Umsetzung das Geheimnis der Autoren bleibt). Und dann ein verpflichtendes „Gesellschaftsjahr“ für Schulabgänger… das wieder ein Problem im Konkreten hat. Denn die Begründung dafür lautet: „Ein Gesellschaftsjahr für alle Schulabgänger ist eine große Chance, den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zu stärken. Dieser Dienst für das Gemeinwohl bringt Menschen aus unterschiedlichen Milieus, Religionen und Generationen zusammen.“
Die Bundeswehr soll auch etwas davon abbekommen, auch wenn ein Jahr eher wenig nützt in einer modernen Armee, und das Wort „Generationen“ deutet an, dass im Grunde ein Ersatz für den alten Zivildienst angedacht ist, weil das das Personalproblem in der Altenpflege lindern könnte. Nur ist dieses „Zusammenbringen“ im konkreten Alltag, wenn man von Kasernen einmal absieht, eher unwahrscheinlich. Die Zivildienstleistenden früher waren jedenfalls nicht kaserniert, und die Möglichkeit, sich die Stelle selbst zu suchen, sorgte dafür, dass die sozialen Trennungen weitgehend gewahrt blieben. Real geht es wohl eher um günstige Arbeitskräfte; wie weit das aber mit einer Jugend funktionieren soll, die zur Hälfte migrantisch ist, wird nicht thematisiert.
Genauso wenig, wie man im Abschnitt über die Bildung, insbesondere das Schulwesen, irgendeinen Ansatz findet, wie das Problem, das nun einmal da ist, gelöst werden könnte. Stattdessen wird hier, wie übrigens auch beim Stichpunkt Universitäten, weiter das neoliberale Schema abgespult: Leistungsorientierung, gegliedertes Schulsystem und vor allem „freie und private Schulträger“. So, wie die Universitäten enger mit der Wirtschaft kooperieren sollen, und selbst die öffentliche Verwaltung für Übergänge in die Privatwirtschaft aufgebrochen wird: „Dazu werden wir Führungsebenen reduzieren, Teamarbeit etablieren, die Möglichkeit zur Besetzung von Führungspositionen mit externen Experten auf Zeit ermöglichen und Führungskräfte der öffentlichen Verwaltung Erfahrungen in privaten Organisationen machen lassen.“
Wenn irgendetwas noch einen Ansatz bietet, das Land wieder in Schuss zu bringen, dann liegt der, so befremdlich es klingen mag, in der öffentlichen Verwaltung, nämlich bei jenen noch vorhandenen Teilen, die ihre Tätigkeit als Dienst an der Bevölkerung begreifen. Wenn man garantieren will, dass das Personal dieser Verwaltung innerlich kündigt, dann muss man ihnen nur „externe Experten“ vor die Nase setzen. Die dann mit Sicherheit auf dem Niveau der jetzt schon allgegenwärtigen externen Berater vergütet werden, sprich, auch noch ein Vielfaches verdienen. Aber so ist das eben – es gibt die Rhetorik, die das Ehrenamt preist, es gibt sogar kleine, überraschende soziale Ausreißer wie eine Befürwortung der Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, aber an allen möglichen Punkten stößt man dort, wo es konkret wird, eben auf die neoliberalen Standards. In einem Atemzug wird ein „attraktiver öffentlicher Dienst“ gefordert, im nächsten soll das Beamtentum weiter reduziert werden.
Der Elefant im Raum, und der Punkt, an dem es völlig unmöglich ist, die Bruchlinie erfolgreich zu übertünchen, ist das Stichwort Souveränität. Das schafft es sogar bis in eine Kapitelüberschrift: „Ein Deutschland, das nachhaltig und souverän ist“. Nur wenn man den Abschnitt „Deutschland in der Welt“ liest, findet man so sehr die transatlantische Diktion, wie man im Abschnitt zur EU eine völlig unkritische Sicht auf Brüssel findet, und beides ist mit dem Gedanken der Souveränität nicht vereinbar. „Eine starke transatlantische Freundschaft muss das Fundament deutscher Außenpolitik bleiben“, heißt es. Die Ukraine schafft es sogar zum Programmpunkt, ihr „Weg zur Mitgliedschaft in der EU und der NATO“ soll unterstützt werden. China wird als „Systemrivale“ bezeichnet. Sprich, das volle Neocon-Programm.
Das mag 2019, als die Programmarbeit begonnen wurde, noch unproblematisch gewesen sein. Inzwischen sind die Folgen der transatlantischen Gefolgschaft für jeden sichtbar, und der geopolitische Teil ist irreal genug, dass er die Wirtschaftsvorstellungen samt „Deutschland muss Industrieland bleiben“ zur Makulatur macht. Sicher kann man von der Programmkommission der CDU nicht erwarten, die transatlantische Orientierung abzustreifen; aber wenn das Hauptproblem, das die Partei mit diesem Entwurf bewältigen will, das Abbrechen des konservativen Teils ist, dann hätte zumindest angedeutet werden müssen, dass zwischen dem Anspruch auf Souveränität und der Fixierung auf NATO und EU ein klitzekleiner Widerspruch besteht. Spätestens seit Nord Stream, einem Projekt, das wohlgemerkt auch von der CDU eben nicht auf Eis gelegt worden war.
Wenn es eine zentrale politische Fragestellung gibt, auf die eine Antwort gefunden werden muss (und die Zeit dafür ist nicht unbegrenzt), dann, wo die deutschen Interessen und die deutschen Möglichkeiten in einer Welt nach der US-Hegemonie liegen. Auch diese Frage liegt auf der Bruchlinie zwischen dem transatlantischen und dem konservativen Teil dieser Partei. Sie entscheidet nicht nur über die Zukunft dieser Partei oder ihre Wahlchancen in Konkurrenz zur AfD, sie entscheidet über die Zukunft des Landes. Aber wie an den meisten anderen Punkten ist trotz allem Gerede von „Zuversicht“ und „Orientierung“, von „Deutschland sicher in die Zukunft führen“, am Ende nur eines zu finden: weiter wie gehabt. Da nützen dann auch „Mut“ und „Vertrauen“ nichts.
Anmerkung:
Vorstehender Beitrag von Dagmar Henn wurde am 13.12.2023 in „RT DE“ erstveröffentlicht. Die Seiten von „RT“ sind über den Tor-Browser zu empfangen.