Der Mann, der sich selbst ’Besitzer’ nennt, sieht sich als Retter. Vermutlich ist die Frau nicht sein erstes Opfer, und außer ihr hält er derzeit noch eine zweite Frau, Mädchen genannt, wie auch einen jungen Mann namens Peter, gefangen.
Wie der Besitzer es anstellt, Menschen gegen ihren Willen und ohne Aufsehen zu erregen, zu entführen, wird nicht erklärt. Die gelungenen Entführungen sind die Voraussetzung dafür, dass das Spiel gespielt werden kann.
Es geht um Strategien in vermutlich aussichtslosen Situationen. Was wäre, wenn der Mann, der Menschen in ausbruchssicheren Räumen gefangen hält, plötzlich stirbt? Die Tür lässt sich nur mit einem Code öffnen, den das Mädchen und Peter nicht kennen. Es gibt ein Fenster, aber das führt zu einem Abgrund. Die Frau, inzwischen in Freiheit, kommt zurück, weil sie ohne den Besitzer nicht leben kann, weigert sich jedoch, Peter und dem Mädchen zu helfen.
Als Peter die Führungsrolle des Besitzers übernimmt, gelingt es ihm, die Frau ins Haus zu locken. Anstatt aber die Tür offen zu lassen, sperrt sich die Frau nun ebenfalls wieder ein und kann sich dann an den Code nicht mehr erinnern. Peter tut das, was der Besitzer seinen Opfern androhte: Er schneidet der Frau die Finger ab.
Zu Beginn des Stücks sagt der Besitzer: „Ich hatte einmal. Ich war etwas. Aber nicht jetzt“. Das Stück endet mit den Worten der Frau: „Ich hatte nichts. Ich war nichts. Meine Geschichte ist leer“.
Der norwegische Dramatiker Arne Lygre hat knappe Dialoge geschrieben mit kurzen, einfachen Sätzen. Auffällig für das Publikum ist, dass die DarstellerInnen auch die Regieanweisungen sprechen. Das beruht nicht auf einem Einfall des Regisseurs, sondern auf der Anweisung des Autors, der Sätze, in denen die Figuren in der 3. Person über sich selbst sprechen, im Text fettgedruckt erscheinen lässt und sie als „Hyperrepliken“ bezeichnet.
So sagt der Besitzer: „Besitzer antwortet nicht. Er geht ein Stück von Frau weg.“
Oder die Frau: „Frau betrachtet Besitzer.“
Die Beschreibungen in den „Hyperrepliken“ ersetzen in Stéphane Braunschweigs Inszenierung entweder die beschriebene Handlung oder werden, mehr oder weniger angedeutet, als Aktionen ausgeführt.
Zentrale Figur des Stücks ist der Besitzer, oder – da im Stück die Bezeichnungen der Personen wie Eigennamen ohne vorangestellten Artikel verwendet werden – Besitzer. Udo Samel spricht langsam mit geheimnisvollem Unterton und gemessenen Bewegungen, hat aber auch bedrohliche und einschüchternde Zornesausbrüche. Es ist spannend, ihm zuzusehen und zuzuhören, auch wenn die Person Besitzer ein Wesen ohne Geschichte und ohne Individualität bleibt.
Besitzer wird von Peter, oder auch Junge, mit Hilfe von Mädchen ermordet. Anschließend erklärt Frau, dieser Mord habe nicht stattgefunden. Besitzer bleibt zunächst noch am Leben, und Junge bleibt noch im Bunker unter dem Keller eingesperrt.
Es lässt sich darüber spekulieren, wie Frau, dieses ganz und gar Besitzers Willen unterworfene Geschöpf, aus eigener Initiative den Handlungsablauf korrigieren kann. Vielleicht empfindet sich Frau als eine Art Wachhund, der das Leben seines Besitzers beschützt. Dennoch ist Frau vermutlich – sicher ist kaum etwas in diesem Stück – der Grund für Besitzers bald darauf erneut erfolgenden Tod, nach dem Besitzer tatsächlich nicht wieder auftaucht.
Besitzer hat Frau in die Freiheit entlassen, sich dann eingestanden, dass Frau ohne ihn nicht zurecht kommen wird und teilt mit: „Besitzer stirbt.“ Er hat sein Ziel nicht erreicht und scheidet aus dem Spiel aus.
Stéphane Braunschweig hat auch das Bühnenbild entworfen: Ein luxuriöser, steingemauerter Keller mit beweglicher Wand, die sich in die Tiefe des Gewölbes öffnet. Vorn links ist die Eisentür mit dem Code, in den Fußboden eingelassen der Einwegspiegel, der den Blick in den Bunker ermöglicht. Wenn in der Rückwand das Fenster mit der Aussicht auf eine majestätische Hochgebirgslandschaft erscheint, fällt Tageslicht in die Düsternis des Gemäuers.
Obwohl das Ambiente an die optische Ausstattung von Computerspielen denken lässt und die karge Sprache wenig Ausdrucksmöglichkeiten zulässt, agieren die AkteurInnen unter Stéphane Braunschweigs Regie wie Menschen. Solange Udo Samel als Besitzer die Szene dominiert, ist auch das konzentrierte Zusammenspiel mit den beiden Frauen spannend zu erleben.
Frau ist zwar clean, hat aber in ihrer unterwürfigen Hinwendung zu Besitzer eine neue Droge gefunden. Claudia Hübbecker zeigt sich euphorisch verliebt, hängt an Besitzers Lippen, um keines seiner Worte zu verlieren und versinkt wegen des bevorstehenden Abschieds in schwermütige Trauer.
Mädchen verhält sich Besitzer gegenüber aufsässig und unzugänglich. Um Mädchen zur Raison zu bringen, werfen Besitzer und Frau das Mädchen auf den Boden und brechen ihm die Nase. Bettina Kerl als Mädchen gestaltet überzeugend die Drogenabhängige, die unter dem Entzug leidet und sich in ohnmächtiger Verzweiflung gegen die Freiheitsberaubung zur Wehr setzt.
Peter (Daniel Christensen) erscheint, nach der Mordepisode, erst wieder auf der Szene nachdem Frau fortgegangen und Besitzer gestorben ist. Während die anderen Mitwirkenden schwarz gekleidet sind, trägt er einen leuchtend blauen Pullover (Kostüme Thibault Vancraenenbroek). Als einzige Figur im Stück hat er nicht nur einen Namen, sondern über ihn werden auch einige wenige biographische Details mitgeteilt. Peter stammt aus einer wohlhabenden Familie, hat Eltern, die nach ihm suchen und nimmt zwar gelegentlich Rauschgift, ist aber (noch) kein Junkie.
Daniel Christensen wirkt zunächst lebendig, aktiv, wie ein junger Held der, trotz seiner berechtigten Ängste, mutig und vernünftig genug zu sein scheint, sich selbst und das Mädchen aus der Gefangenschaft zu befreien. Aber auch der vermeintliche Erlöser verliert sein Gesicht und wird zu einer austauschbaren Figur in einem Spiel, in dem es um die Auslotung des Grauens und nicht um seine Überwindung geht.
Das von Arne Lygre geschaffene Szenarium ist so oder ähnlich in unendlich vielen Produktionen der medialen Unterhaltungsindustrie zu finden. Anstatt aber eine überschaubare Geschichte zu konstruieren, lockt der norwegische Dramatiker immer wieder mit dem Versprechen auf Spannung und Enthüllung, das immer wieder nicht eingehalten wird.
Vielleicht ging es Lygre darum, in seinem Stück das Psychogramm eines Entführers mit moralischen Absichten zu entwickeln, Verhaltensweisen von Opfern zu demonstrieren oder zu zeigen, wie leicht ein Opfer zum Täter werden kann. All das ist im Stück enthalten, obwohl nicht mehr als allzu Bekanntes darüber zu erfahren ist.
Verstörend an der Inszenierung von Stéphane Braunschweig, die das Stück, übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel, ungekürzt und ohne Veränderungen auf die Bühne bringt, ist das Spiel mit der Lust an pseudorealistischen Gewaltszenarien. Die Brüche und Verfremdungen, durch die der Spannungsbogen immer wieder abreißt, sind so angelegt, dass sie Frustration beim Publikum bewirken und nicht etwa Erleichterung darüber, immer wieder aus dem Albtraum herausgerissen zu werden.
„Tage unter“ von Arne Lygre war als deutschsprachige Erstaufführung am 17. und 18.12.2011 im Rahmen der spielzeit’europa im Haus der Berliner Festspiele zu erleben.