Goldene Herbsttage in Golden – Serie: Unterwegs in der Bergwelt Westkanadas (Teil 2/2)

Blick auf das weite Tal bei Golden in Westkanada vom Gleitschirm aus

Individualisten und Cowboys sind hier keine Seltenheit. Wohlhabende asiatische Reisegruppen machen kaum Station und ahnen gar nicht, was ihnen an Ursprünglichkeit entgeht. Hier schlägt das Herz des echten Westens, liegt einer der größten Rangierbahnhöfe für Güterzüge in Westkanada, und bei stabilem Sommerwetter landen Gleitschirme mit Pilot und Passagier auf saftigen Wiesen – ein Spielplatz für Abenteurer und solche, die es werden wollen. Es gibt alles zu kaufen, was man im Ranchcountry braucht, Schrauben in allen Größen, Holz als Rohware, oder schon gehobelt und beschnitten, vor allem Stiefel und tellergroße T-Bone-Steaks. PKW sind eher selten, Jeeps und Pickuptrucks brummen auf großen Rädern die Hautstraße entlang. Vorbei- oder einfahrende Züge hört man regelmäßig, vor allem den typischen Sirenenklang vor unbeschrankten Gleisübergängen – der immer gleiche Sound zwischen Neufundland und Vancouver Island erinnert an die tragende Funktion der Eisenbahnen in der Geschichte des Landes.

Rennen hinaus ins Bodenlose – Tandemflug vom Mount Seven

Langsam fährt der Jeep bergan. Aufgrund der zunehmenden Höhe wechselt die Vegetation von Laub- zu Nadelwald. Die Piste ist ungeteert und steil. Nur der Geländegang schafft noch die Steigung. Schließlich erreichen wir zusammen mit anderen Passagieren und zwei Fluglehrern den Gipfel des Mount Seven. Nein, es ist nicht der siebte Gipfel. Wenn man aber Ende Mai bis Mitte Juni im Frühjahr vom Talboden aus diesen Berg vom Westen her anschaut, ist eine tiefe Rinne immer noch mit Schnee gefüllt. Sie hat die graphische Form der Zahl Sieben. Mount Seven und Gleitschirm- und Drachenfliegen  passen zusammen wie die Stiefel für einen Cowboy. Von da aus will sich jeder einmal in die Lüfte erheben – und wie auch sonst beim Fliegen: runter kommen dann ja alle wieder!

Als wir aussteigen, wundern wir uns, wie warm es hier auf 2000 Metern noch ist. Von Westen steigt die Luft durch die Nachmittagssonne angeheizt am Hang entlang nach oben. Der übliche Windsack, wie an allen Startplätzen, ist ständig in Bewegung. Vor uns macht sich ein Drachenflieger bereit. Nachdem er alles in Stellung gebracht hat, läuft er langsam auf eine Holzplattform, immer den Wind beobachtend. Noch ein paar Schritte nach vorne und er springt ins Leere, vom Aufwind getragen beginnt er seine Kreise zu ziehen. Wir sind etwas nervös. Zwei etwa 15 jährige Mädchen starten mit ihren Piloten zuerst. Die Gleitschirme werden ausgepackt und im Halbkreis ausgelegt, Leinen und Haken überprüft. Als Passagier sitzt man direkt vor dem Pilot, nur auf einem schmalen Brett, aber sicher angeschnallt, sowie mit Leinen und Schirm verbunden. Doch zunächst werfen Hugo Tschurtschenthaler, mein aus Südtirol eingewanderter Pilot, und ich einen Blick auf den Windsack und warten. Der Schirm hat sich hinter uns bereits aufgebläht. „Wenn ich sage los, dann rennen wir dem Wind entgegen bergab“ ruft Hugo mir zu. Es wird mein Jungfernflug sein, die Knie sind etwas weich. Geduld ist gefragt. Eine halbe Minute kann in dieser Situation ganz schön lang sein. Plötzlich ertönt das Kommando und ich beginne bergab zu rennen, jeden Gedanken verdrängend, einfach runter, und bevor ich es richtig begreife, tragen uns die Beine nicht mehr. Einige Meter über den nächsten Baumwipfeln gleiten wir bereits hinaus in die Weite. Tüt-tüt-tüt-tüt tönt der Höhenmesser, denn wir steigen in der Nachmittagsthermik. Hugo bedient die Steuerung des Schirmes mit beiden Armen. Man sitzt ganz bequem, wie auf einer Brettschaukel, nur eben festgezurrt. Hugo nützt die Thermik geschickt und wir kreisen – nach meiner Auffassung ziemlich nahe – an Felswänden entlang und über Tannenwipfeln. Meine Kameras habe ich mit Schlaufen und Karabinern an den Sicherungsgurten vor der Brust befestigt. Noch nie war Fotografieren so schwierig: Luftlöcher, unerwartete Kurven und ständiger Wechsel der Perspektive. Hugo fährt einen Teleskopstock zwei Meter weit aus. An ihm ist seine Kamera befestigt, die uns in Aktion von vorne filmt und fotografiert. Das Abenteuer wird nach der Landung auf einer CD fest gehalten. Endlich verlassen wir die Nähe der Steilhänge und gleiten langsam hinaus über die 1000 Meter unter uns liegende Talebene. In der Sonne glänzen die Wasser des Flusses, ganz weit draußen die Güterzüge und schräg vor uns die große Wiese, wo wir in einer halben Stunde landen werden. So langsam tritt hier oben für mich Gewöhnung ein, die Kurven werden auch nicht mehr so eng gezogen. Es ist ein Genuss, wenig Gegenwind und weite Perspektiven. Vom Boden aus werden wir schon erkannt, jemand winkt. „Sobald wir Bodenberührung haben müssen wir schnell laufen“, stimmt Hugo mich ein. Völlig problemlos nähern wir uns langsam schräg der Erdoberfläche, machen noch fünf oder sechs rasche Schritte im Gras und der Schirm sinkt hinter uns zusammen. Schon nach zehn Minuten sind die digitalen Aufnahmen überspielt. Die beiden Mädchen stehen blass und still neben uns. Der anfängliche Übermut ist ihnen wohl beim Flug vergangen. Wir sind noch eine Weile hier, denn Hugo erzählt uns von seiner Einwanderung vor vielen Jahren. Seine Familie betreibt etwas südlich von Golden die Tschurtschenthaler Lodge, ein bekanntes Domizil für Bed & Breakfast.

Panorama und Pasta im Gipfelrestaurant

Weit leuchten die hellen Stämme der Kicking Horse River Lodge am Flussufer. Diese etwas alternative Lodge wurde für ihr Umweltengagement ausgezeichnet. Im dazugehörigen Bugaboo Cafe gibt es nicht nur solchen und Kuchen, sondern handfeste Kost für den großen Hunger nach den Abenteuern. Einige der meist jüngeren Gäste kommen gerade vom Kicking Horse Resort. Etwa 10 km außerhalb und 400 m höher als Golden wurde am Hang eines 2300 m hohen Bergmassivs eine Art Abenteuerspielplatz errichtet. Am Fuß der Berge weiträumige Parkplätze, wie in den europäischen Alpen. Es werden Eigentumswohnungen angepriesen, Läden verkaufen Sportartikel, und jetzt im Sommer ist hier das Mekka der Mountainbiker. Sie nehmen ihr spezielles Zweirad in der Gondelbahn mit auf den Gipfel, um von dort aus auf halsbrecherischen Wegen, über Geröll und künstliche Holzbrücken zwischen Felsbrocken ins Tal zu gelangen. Wir ziehen ein Pastagericht im „Eagle`s View Restaurant“ auf 2300 m Höhe diesem Risiko vor. Vor Jahren waren wir bereits zur gleichen Jahreszeit hier oben, in Wolken und Neuschnee, kein Wunder bei dieser Höhe. Wir unterbrechen die Talfahrt der Gondel auf der Mittelstation. Hier wurde in einem viele Hektar großen Waldgelände – jedoch eingezäunt – ein verwaister junger Grizzlybär aufgezogen. Es dauert ziemlich lange, bis es etwas abgekühlt hat und er sich aus dem Unterholz in die Abendsonne wagt, denn er scheut die Tageshitze. Gemütlich wandert er zu einem etwa 5 m breiten kleinen Naturtümpel auf einer Lichtung und trollt sich ins Wasser. Voller Genuss sitzt er in der braunen Brühe auf seinem breiten Gesäß und genießt die Erfrischung, haut immer wieder mit der Vordertatze ins Nass und ignoriert alle Zuschauer. Zu schade, dass in Kürze die letzte Gondel talwärts fahren wird. Der Rückweg zu Fuß ist uns dann doch etwas zu lang.

Unseren letzten Abend in Golden verbringen wir im Cedar House Restaurant and Cafe, etwas außerhalb des Ortes auf der Höhe. Geschmackvolle Gebäude, ein kleiner Park mit alten Kiefern und eine alternative, europäisch inspirierte Speisekarte. Auch hier werden Zimmer vermietet, jedoch liegt das Hauptaugenmerk auf dem Gourmetrestaurant. Nach all den Erlebnissen der vergangenen Tage schmeckt es ganz besonders. In der folgenden Nacht habe ich geträumt, zwei todesmutige Mountainbiker wären mit einem Gleitschirm abgehoben.

Informationen: Golden liegt nahe des Transcanada-Highways zwischen Calgary und Vancouver umgeben von einigen Nationalparks. Es eignet sich besonders als Standort für die beschriebenen Abenteuer.  Auf dem Kicking Horse Resort werden im Winter legendäre Skipisten gepflegt. Genaueres zur Region findet man unter www.tourismgolden.com, für Unterkünfte empfiehlt sich die Kicking Horse River Lodge, www.khrl.com, als Restaurant das Cedar House Cafe, www.cedarhousecafe.com, wer schließlich den Tandemflug wagen möchte findet Auskünfte unter www.flygolden.ca, übernachten in der Lodge des Piloten: www.tschlodge.com, Allgemeine Informationen über Kanada sind erhältlich bei Lange Touristik-Dienst, Postfach 200247, 63469 Maintal, Tel.: 01805 – 526232 oder unter www.travelcanada.ca (deutschsprachig).

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