„Gieße aus Deinen Zorn!“

Orthodoxer Jude mit Mazze am Sederabend. Glí¤ubige Juden reinigen ihr ganzes Haus vor dem Fest von jeder Spur von Gesí¤uertem und essen die ganze Pessach-Woche lang kein gesí¤uertes Brot. © dpa

Die Auswirkungen dieses Buches auf das jüdische Leben sind immens. Jeder Jude nimmt an dieser Zeremonie von frühester Kindheit an teil und spielt bei dem Ritual eine aktive Rolle. Wo immer ein jüdischer Mann oder eine jüdische Frau im späteren Leben hingeht, nehmen sie in der Erinnerung an die Wärme des Zusammenseins der Familie, die zauberhafte Atmosphäre mit – und die offene und unterschwellige Botschaft, die der Text vermittelt.

Wer auch immer das Seder- („Ordnung“) Ritual vor vielen Jahrhunderten erfunden hat, war ein Genie. Alle menschlichen Sinne sind beteiligt: sehen, hören, schmecken, riechen. Es schließt das Essen eines vorgeschriebenen Mahles ein, das Trinken von vier Gläsern Wein, das Berühren von verschiedenen vorgeschriebenen symbolischen Dingen, das Spielen eines Spiels mit den Kindern (das Suchen nach einem versteckten Stück Matze) Es endet mit dem gemeinsamen Singen mehrerer religiöser Lieder. Die angesammelte Wirkung ist fast magisch.

Mehr als jeder andere jüdische Text formt die Haggadah bewusst – oder eher unbewusst – die Gesinnung heute wie in der Vergangenheit, beeinflusst unser kollektives Verhalten und die nationale Politik Israels.

Es gibt viele verschiedene Wege, dieses Buch zu betrachten.

Als Literatur: als literarisches Werk ist die Haggadah ziemlich miserabel. Dem Text fehlt die Schönheit, er ist voller Wiederholungen, Plattitüden und Banalitäten.

Dies mag Verwunderung auslösen. Die hebräische Bibel – die Bibel auf hebräisch – ist ein Werk von einzigartiger Schönheit, an vielen Stellen ist seine Schönheit berauschend. Die Spitzen westlicher Kultur – Homer, Shakespeare, Goethe, Tolstoi – kommen ihr nicht einmal nahe. Selbst die späteren jüdischen religiösen Texte – Mishna, Talmud usw. – auch wenn sie nicht so erbaulich sind, enthalten Passagen von literarischem Wert. Die Haggadah hat keinen. Es ist ein Text der rein für Indoktrination gedacht ist.

Als Geschichte ist sie nichts wert. Obwohl sie vorgibt, Geschichte zu erzählen. Die Haggadah hat nichts mit realer Geschichte zu tun.

Es kann nicht mehr der geringste Zweifel daran bestehen, dass der Exodus sich nie ereignet hat. Weder der Exodus noch die Wanderung durch die Wüste, auch nicht die Eroberung von Kanaan.

Orthodoxer Jude mit Mazze am Sederabend. Gläubige Juden reinigen ihr ganzes Haus vor dem Fest von jeder Spur von Gesäuertem und essen die ganze Pessach-Woche lang kein gesäuertes Brot. © dpaDie Ägypter waren besessene Chronisten. Zig Tausende von Täfelchen sind schon entziffert worden. Es würde für ein Geschehen wie den Exodus unmöglich gewesen sein, über ihn nicht lang und breit zu berichten. Nicht wenn 600 000 Menschen wegziehen, wie die Bibel erzählt, oder 60 000 oder sogar nur 6000. Besonders wenn während der Flucht ein ganzes ägyptischen Armee-Kontingent, einschließlich Streitwagen, ertrinkt.

Dasselbe gilt für die Eroberung Kanaans. Nachdem es einmal von Kanaan erobert wurde, hatten die Ägypter akute Sicherheitsbefürchtungen, was dieses Nachbarland betraf . Sie beschäftigen jetzt eine Menge Spione, Reisende, Kaufleute und andere, die eng den Ereignissen im benachbarten Kanaan in jeder einzelnen seiner Städte und zu allen Zeiten folgten. Eine Invasion in Kanaan, selbst eine kleine, hätte man berichtet. Abgesehen von den regelmäßigen kleinen Einfällen durch Beduinenstämme, wurde nichts berichtet.

Außerdem existierten die in der Bibel erwähnten Städte zu jener Zeit noch gar nicht, als das Geschehen angeblich passiert ist. Sie existierten allerdings später, als die Bibel geschrieben wurde – im 1. und 2. Jahrhundert v. Chr.

Es ist nicht nötig, darauf hinzuweisen, dass nach hundert Jahren fieberhafter archäologischer Suche durch fromme christliche und zionistische Zeloten nicht eine Scherbe als konkreter Beweis für die Eroberung Kanaans gefunden worden ist (auch nichts davon, dass ein Königtum Sauls, Davids oder Salomos je existierten).

Aber ist das wirklich wichtig? Überhaupt nicht!

Die Passahgeschichte leitet ihre immense Macht nicht von der angeblich historischen Geschichte ab. Es ist ein Mythos, der die menschliche Vorstellung fesselt, ein Mythos, der die Grundlage einer großen Religion ist, ein Mythos, der bis auf den heutigen Tag das Verhalten der Menschen bestimmt. Ohne die Exodus-Geschichte gäbe es wohl den Staat Israel von heute nicht – und gewiss nicht in Palästina .

Der Ruhm: Man kann die Exodusgeschichte als ein leuchtendes Beispiel für alles, was gut und inspirierend in den Annalen der Menschheit ist, lesen.

Hier ist die Geschichte eines kleinen machtlosen Volkes, das sich gegen einen brutalen Tyrannen erhebt, seine Fesseln abwirft, eine neue Heimat gewinnt und dabei einen revolutionären neuen Moralcodex schafft.

So betrachtet, ist der Exodus ein Sieg des menschlichen Geist, eine Inspiration für alle unterdrückten Völker. Und tatsächlich hat er viele Male in der Vergangenheit diesem Zweck gedient. Die Pilgerväter, die Gründer der amerikanischen Nation, wurden davon inspiriert und so waren es auch viele andere Rebellionen im Laufe der Geschichte.

Die andere Seite: wenn man sorgfältig den biblischen Text liest, ohne religiöse Scheuklappen, dann geben uns einige Aspekte Nahrung für andere Gedanken.

Nehmen wir die zehn Plagen. Warum wurde das ganze ägyptische Volk für die Untaten eines Tyrannen, des Pharao, bestraft? Warum verhängte Gott wie ein göttlicher Sicherheitsrat so grausame Sanktionen, verunreinigte ihr Wasser mit Blut, zerstörte ihren Lebensunterhalt mit Hagel und Heuschrecken? Und noch grausamer: wie konnte ein gnädiger Gott seine Engel senden, um jedes erst geborene ägyptische Kind zu töten?

Beim Verlassen Ägyptens waren die Israeliten ermutigt, Besitz ihrer Nachbarn zu stehlen.

Es ist ziemlich seltsam, dass der biblische Geschichtenschreiber, der sicher tief religiös war, dieses Detail nicht vergaß. Und dies nur wenige Wochen bevor den Israeliten die Zehn Gebote von Gott persönlich gegeben wurden, einschließlich des Gebotes: „Du sollst nicht stehlen!“

Keiner scheint sich je viele Gedanken über die ethische Seite der Eroberung Kanaans gemacht zu haben. Gott versprach den Kindern Israels ein Land, dass die Heimat anderer Völker war. ER sagte ihnen, diese andern Völker zu töten, ja ausdrücklich befahl er ihnen, Völkermord zu begehen. Aus irgendeinem Grund nahm er das Volk der Amalekiter heraus und befahl den Israeliten, sie alle zusammen, zu vernichten. Später wurde der ruhmreiche König Saul von Gottes Propheten entthront, weil er Gnade gezeigt und nicht alle seine amalekitischen Kriegsgefangenen, Männer, Frauen und Kinder umgebracht hatte.

Natürlich wurden diese Texte von Leuten vor langer Zeit geschrieben, als die Moral der Individuen und Nationen anders war, und so auch die Regeln des Krieges. Aber die Haggadah wird – heute wie früher – unkritisch aufgesagt, ohne Überlegungen über diese schrecklichen Aspekte. Besonders in religiösen Schulen in Israel wird das Gebot, einen Völkermord gegen die nicht-jüdische Bevölkerung Palästinas zu begehen, von vielen Lehrern und Schülern ganz buchstäblich genommen.

Indoktrinierung: Dies ist der wirkliche Punkt dieser Reflektionen.

Da gibt es zwei Sätze in der Haggadah, die immer noch eine tiefe Wirkung auf die Gegenwart haben.

Einer der zentralen Gedanken, auf den fast alle Juden ihre historische Ansicht gründen: „In jeder Generation erheben sie sich gegen uns, um uns zu zerstören.“

Dies gilt nicht für eine bestimmte Zeit oder einen bestimmten Ort. Es wird als eine ewige Wahrheit angesehen, die für alle Orte und Zeiten gilt. „Sie“ ist die ganze Welt, alle Nicht-Juden überall. Die Kinder hören dies am Sederabend auf dem Schoß ihres Vaters, lange bevor sie lesen und schreiben können, und von da an hören sie es oder rezitieren sie es jedes Jahr – jahrzehntelang. Es drückt die ganze bewusste und unbewusste Überzeugung fast aller Juden aus, ob in Los Angeles, Kalifornien oder in Lod in Israel. Es lenkt sicherlich die Politik des Staates Israel.

Der zweite Satz, der den ersten ergänzt, ist ein Schrei zu Gott: „Gieße deinen Zorn über die Völker, die dich nicht kennen ”¦denn sie haben Jakob verschlungen und sein Haus verwüstet! Möge Dein lodernder Zorn sie ereilen! Verfolge sie unter den Himmeln des Herrn”¦“

Das Wort „Nationen“ hat in diesem Zusammenhang eine doppelte Bedeutung. Das hebräische Wort ist „Goyim“, ein alter hebräischer Ausdruck für „Völker“. Selbst die Israeliten wurden als „Heilige Goyim“ bezeichnet. Aber während der Jahrhunderte erhielt das Wort eine andere Bedeutung und meint alle Nicht-Juden, und zwar in abfälliger Weise. (Wie in einem jiddischen Lied: „Oy,Oy,Oy, betrunken ist ein Goy!“)

Um diesen Text richtig zu verstehen, erinnere man sich daran, dass es als ein Schrei aus der Tiefe des Herzens eines wehrlosen, verfolgten Volkes kam, das keine Mittel hatte , sich bei seinen Folterern zu rächen. Um ihre Gemüter zum fröhlichen Sederabend zu erheben, mussten sie ihr Vertrauen auf Gott setzen und zu IHM schreien, Er möge an ihrer Stelle Rache nehmen.

Während des Seder-Rituals steht die Tür immer offen. Offiziell bedeutet sie, dass der Prophet Elia eintreten kann, sollte er wunderbarerweise von den Toten auferstehen. Tatsächlich sollte aber es den Goyim erlauben, hereinzusehen, um die antisemitische Verleumdung zu widerlegen, dass Juden ihr ungesäuertes Pessachbrot mit dem Blut gekidnappter christlicher Kinder backen.

Die Lektion: In der Diaspora war dies Verlangen nach Rache verständlich und harmlos. Aber die Gründung des Staates Israel hat die Situation vollkommen verändert. In Israel sind die Juden weit davon entfernt, wehrlos zu sein. Wir müssen uns nicht auf Gott verlassen, dass er die realen oder eingebildeten Untaten, die uns in der Vergangenheit und Gegenwart angetan wurden, räche. Wir können jetzt unsern Zorn selbst ausgießen über unsere Nachbarn, die Palästinenser, und die andern Araber , auf unsere Minderheiten, auf unsere Opfer.

Das ist die wirkliche Gefahr der Haggadah, wie ich sie sehe. Sie wurde von und für hilflose Juden geschrieben, die in ständiger Angst lebten. Es hob ihre Gemütsverfassung einmal im Jahr, wenn sie sich für den Augenblick sicher fühlten, beschützt von ihrem Gott, umgeben von der Familie.

Aus diesem Kontext herausgenommen und in einer neuen, völlig anderen Situation angewandt, kann es uns auf einen bösen Kurs bringen. Wenn wir uns sagen, dass jeder darauf aus ist, uns zu zerstören – gestern und bestimmt morgen, betrachten wir den übertriebenen Bombast eines iranischen Großmauls als lebendigen Beweis der Gültigkeit der alten Maxime. Sie sind darauf aus, uns zu töten. Also müssen wir – entsprechend der alten jüdischen Anordnung – sie zuerst töten, bevor sie uns töten.

An diesem Sederabend lasst uns also den edlen, inspirierenden Teil der Haggadah betrachten, den Teil über die Sklaven, die sich gegen den Tyrannen erheben und ihr Schicksal in ihre eigenen Hände nehmen – und nicht den Teil, indem es um das Ausgießen des Zorns geht.

Anmerkungen:

Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Die Erstveröffentlichung erfolgte unter www.uri-avnery.de am 07.04.2012. Alle Rechte beim Autor.

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