Ekkehard A. R. Tanner: Professor Herding, Sie forschen seit etwas mehr als vierzig Jahren über das Werk von Gustave Courbet. Nun haben Sie eine Ausstellung über den Maler kuratiert. Wie kam es dazu?
Prof. Dr. Klaus Herding: Courbet ist unter den unterschiedlichsten Aspekten einer der aufregendsten Maler: Einmal wegen seines sozialen und politischen Engagements, das sich unmittelbar in seiner Kunst spiegelt und dort auch zu einem Bruch mit der akademischen Feinmalerei geführt hat, zum anderen wegen seiner unkonventionellen Flächenmalerei, die im massiven Farbauftrag Van Gogh, in ihrem hochgradigen Abstraktionsgrad Cézanne und im tiefgründigen Ausdruck von Emotionen den Symbolismus bis hin zu Böcklin und Munch vorwegnimmt. Alle diese Aspekte haben mich immer wieder beschäftigt. Infolge des von mir begründeten Graduiertenkollegs „Psychische Energien bildender Kunst“ hat mich seit fünfzehn Jahren vor allem der dritte Aspekt interessiert. Da Phänomene wie emotionale Poesie und Fantasie, Tagträumerei und Albtraum bei Courbet kaum oder nur nebenbei bemerkt worden ist, war es an der Zeit, diesen Gesichtspunkt einmal in den Mittelpunkt zu rücken. Dafür bietet eine große Ausstellung die beste Möglichkeit. Als ich Herrn Hollein vor fünf Jahren darauf ansprach, zeigte er spontanes Interesse, und so beschlossen wir, eine solche Ausstellung zu wagen.
E.T.: Vor drei Jahren gab es in Paris eine große Retrospektive, die weiter nach New York und Montpellier ging. Welchen Aspekt von Courbet möchten Sie uns in Ihrer Ausstellung zeigen?
K.H.: Die große Retrospektive hat das Gesamtwerk von Courbet in repräsentativen Beispielen gezeigt, aber – abgesehen vom Einfluss der Fotografie auf Courbet – keine spezifische These hervorgebracht. Dagegen wollte ich die Imagination, das Hinhören, das träumerische neben sich selbst Stehen, die Versenkung in die Natur und in das seelische Innenleben als einen wesentlichen Grundpfeiler in Courbets Schaffen hervorkehren. Außerdem konnte ich viele unbekannte oder noch nie gezeigte Bilder aufspüren, so dass die Ausstellung zu 50% mit Werken bestückt werden konnte, die in der großen Retrospektive fehlten.
E.T.: Courbet ist ein Maler, dessen Bilder oft nicht auf den ersten Blick gefallen. Man muss sich Zeit mit ihm lassen, sich in seine Werke hineinversenken. Dies scheint in unsere schnelllebige Zeit, in der wir, etwa bei der Arbeit am Computer, immer mehr visuellen Reizen ausgesetzt sind, nicht so recht zu passen. Ist Courbet nicht hoffnungslos überholt?
K.H.: Im Gegenteil. Dass jemand sich zugleich an der äußeren Wirklichkeit orientiert und in sich hineinhört, erleben wir tagtäglich, wenn wir mit dem Kopfhörer durch einen Park joggen. Das Verständnis für eine doppelte Orientierung ist in den vergangenen 30 Jahren gerade auch durch diese medialen Möglichkeiten gewachsen. Bei der letzten großen Courbet-Ausstellung in Deutschland, an der ich vor 32 Jahren beteiligt war, hätte man dieses Argument dem Publikum noch gar nicht vermitteln können. Außerdem gibt es ja durchaus Widerstand gegen das „Schnelllebige“ – Stichwort Verlangsamung. Die Einrichtung von Ruhezonen und Fußgängerstraßen, die Wiedergewinnung von Rückbau von Flussauen oder der Rückbau innerstädtischer Hochgeschwindigkeitstrassen – das ist „in“! Im übrigen: Was heißt in der Kunst „überholt“? Schon Baudelaire hat ausgesprochen, dass es in der Kunst keinen „Fortschritt“ gibt, und bekanntlich ist kaum ein Maler so modern wie Giotto, und kaum ein Maler ist heute so vergessen wie Constantin Guys, der das moderne Leben in Paris malte und damit nur kurzfristig Ruhm erzielte. Gerade weil Courbet gegen das „Schnelllebige“ anmalt, zieht er die Besucher an, vor allem jüngere, die noch nicht im Geschäftsleben aufgehen, und ältere, die erkannt haben, dass man darin gar nicht aufgehen soll.
E.T.: Courbet gilt als eine der Hauptfiguren der Malerei des Realismus. Er selbst lehnte diese Etikettierung ab. Weshalb?
K.H.: Courbet erkannte, dass seine Größe darin lag, sich nicht auf eine einzige Richtung festlegen zu lassen, sondern für vieles offen zu bleiben. In der Ausstellung erlebt man ihn von seiner romantischen, symbolistischen, abstrahierenden, magisch- realistischen und surrealen Seite. Man erkennt, dass die realistische Komponente nur eine unter vielen war. Gerade Courbets unterschiedliche Malweise, seine Schwere und Dunkelheit, seine Helligkeit und Farbauflösung, seine Überdimensionierung von Gegenständen wie auch seine eingestreuten winzigen Fantasmen begeistern. Niemand wird von Courbet sagen: Wenn man ein Bild gesehen hat, hat man alle gesehen. Der Verzicht auf eine festgelegte „Masche“, auf einen einzigen Stil war es, was diesen Maler so attraktiv für Seurat und Picasso, für Beckmann und Gerhard Richter gemacht hat.
E.T.: Courbet, ein Traum von der Moderne”¦ Wie dürfen wir den Titel Ihrer Ausstellung verstehen?
K.H.: Ich habe bewusst formuliert: „Ein Traum von”¦“ und nicht einfach „Ein Traum der”¦“ Denn es ist die Vorahnung der Möglichkeiten der klassischen Moderne, die Courbet in seine für so viele Künstler gewichtige Startposition gebracht hat. Auch ist es nicht allein der Traum als Sujet, sondern eher eine träumerische Haltung dem Leben gegenüber, die Courbet auszeichnet. Der Begriff der Moderne ist natürlich heute (damals keineswegs!) so abgegriffen wie der Begriff des Realismus. Aber Courbet verstand darunter den Bruch mit der Konvention, z. B. die Aufwertung des skizzenhaften Bildes, das seit seiner Malerei einen gleichwertigen Platz neben dem sorgfältig zu Ende gemalten Bild beanspruchen konnte, oder den Verzicht auf ein repräsentatives Bildnis zugunsten der Einbettung des Dargestellten in eine produktiv-verweilende Sphäre der Versenkung oder die Absage an die Idylle in der Landschaftsmalerei oder auch den Verzicht auf die Hervorhebung einer klassischen Sehenswürdigkeit zugunsten der Versenkung in das alltäglich „Zuhandene“ (wie Heidegger sagt).
E.T.: Ist Courbet wirklich ein moderner Maler? Er malt ja keine Dampfschiffe oder Eisenbahnen, wie später etwa die Impressionist(inn)en. Was ist Modernität bei Courbet?
K.H.: Modernes Leben und moderne Kunst sind für Courbet zwei paar Stiefel. Er setzte auf die Erneuerung durch Rekurs auf die Natur, nicht auf Großstadt und Industrie, er wollte Selbstverwirklichung in einer befreiten, nicht in einer stromlinienartig formierten Gesellschaft. Nur in einer kurzen Phase, bei Manet und den Impressionisten, wurde die Symbiose von künstlerischer Freiheit und modernem Leben für möglich gehalten, dann, im Symbolismus (bei Gauguin oder in der Dichtung bei Rimbaud) hieß „être absolument moderne“ schon wieder, sich von Paris, von den Errungenschaften des modernen Lebens, vom Getöse des Industrialismus so weit entfernt zu halten wie nur möglich. Das moderne Leben wurde in Frankreich zunächst mit der autoritär-kapitalistischen Regierung Napoleons III. gleichgesetzt, und danach mit dem entfesselten Hochkapitalismus des letzten Jahrhundertdrittels, in dem die Künstler nicht aufgehen wollten.
Ausstellung: „Gustave Courbet – Ein Traum von der Moderne“ bis zum 30. Januar 2011 in der Schirn Kunsthalle, Frankfurt am Main
Gespräch: Professor Klaus Herding im Gespräch mit dem Maler Neo Rauch. Moderation: Eduard Beaucamp. Am 28. Januar 2011 von 19:00 bis 20:30 im Haus am Dom in Frankfurt am Main. Die Veranstaltung ist ausverkauft, kann aber im Livestream auf der Webseite der Schirn verfolgt werden.
Katalog: Courbet – Ein Traum von der Moderne, hrsg. von Klaus Herding und Max Hollein, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2010, 304 S., 220 Abb., ISBN 978-3-7757-2628-3, 34,80 €