Ausgehend von einem gedrungenen kleinen Schatten am rechten unteren Bildrand, der lichtdurchflutet von einer hochstehenden Sonne kündet, gelangt er über den Körper einer älteren Dame mit Stock und Tasche zu einer blendend weißen Polizisten-Jacke. Der Verkehrsregler steht mit dem Rücken zu uns mitten im Bild, mitten auf der Straße. Stöckchen in der Linken, die Beine leger gespreizt, keine Gefährt weit und breit. Licht und Flimmern von oben rechts, kurze harte Schatten, Häuser, Wände, Menschen. Und wieder die Dame mit ihrem flüssig gestützten Schritt, dem betupften Kleid. Ein Bild wie aus einer anderen Welt, einer anderen Zeit ohnehin.
„Geschlossene Gesellschaft – Künstlerische Fotografie in der DDR 1945–1989“ ist der Titel sowohl einer aktuellen Ausstellung in der Berlinischen Galerie als auch des 350 Seiten starken Kataloges des Kerber-Verlags, der zu den vorgestellten Bildserien erhellende Essays versammelt. Die Ausstellung will zwei Jahrzehnte nach dem Mauerfall Traditionslinien aufzeigen, fotografische Strömungen herausarbeiten und „lässt Veränderungen in Bildsprachen und Themen sichtbar werden.“ Konkret bedeutete dies, „nach Möglichkeit wurden ”¦ in sich abgeschlossene Projekte ausgewählt, die von den Autoren selbst definiert worden sind.“ Die von den Kuratoren Ulrich Domröse, T.”‰O. Immisch, Gabriele Muschter und Uwe Warnke ausgewählten Serien wurden in drei Themenkomplexe gegliedert, als Ordnungsversuch, Überschneidungen eingerechnet. 34 Autoren, 40 Jahre und ein Prolog (1945-49). Kann das gelingen? Ja, allein der Katalog überzeugt durch Materialfülle und behutsam gründliche Recherche sowie Aufarbeitung von Fragestellungen. Dass einige wichtige Fotografen fehlen müssen, bringt eine Auswahl zwangsläufig mit sich, in einem umfangreichen Nebenprogramm zeig(t)en verschiedene Galerien und Museen der Stadt einige der Autoren, die in der Geschlossenen Gesellschaft fehlen, z.B. Christiane Eisler, die 1983 eine Serie zu Punks in Leipzig schuf. Hervorzuheben im umfangreichen Nebenprogramm seien vor allem die Ausstellungen der Staatsgalerie Prenzlauer Berg.
Jede Generation und jeder Kunstgeschmack wird seine Lieblinge finden, ob die Akt-Serie von Gundula Schulze El-Dowy oder die knallbunte Porträt-Reihe von Erasmus Schröter, dessen blau-lilatupfbekleidete Dame vor blaugrüner Kachelwand es verdienterweise auf das Katalog-Cover geschafft hat, kein Bild wirkt beliebig, banal. Manches entfaltet seine Wirkung erst in der Ausstellung selbst, zum Beispiel die stoffliche Brutalität der genähten Fotos von Lutz Dammbeck. Geradezu beängstigend bedrängt die nachgebaute Installation „Schlachthaus Berlin“ von Jörg Knöfel (1986/88) den Betrachter, der sich durch Metallscheibenwände zwängt und nur noch fliehen mag. Von den trostlosen Aufnahmen des zerstörten Dresdens und eines hin geschmetterten jungen Soldaten Richard Peter Sen.`s bis zu den verstörenden Bildern des Alexanderplatzes „Stehplätze-Störplätze“ mit schwarzem Loch im Zentrum sind die Reihen allesamt durchdrungen von Empathie, Ironie und nicht zuletzt Lebenslust.
Beim Besuch der Ausstellung lohnt im Anschluss die Betrachtung der beigeordneten Filmreihe zum Schaffen von Sibylle Bergemann, Gundula Schulze El Dowy und Arno Fischer.
Fazit: der Katalog bildet einen wertvollen und eigenständigen Beitrag zur kunsthistorischen Aufarbeitung wie Einordnung der Fotografie in der DDR, besonders wertvoll!
Geschlossene Gesellschaft, Künstlerische Fotografie in der DDR 1949-1989, Katalog anlässlich der Ausstellung in der Berlinischen Galerie, Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur, 350 S., Kerber-Verlag, Bielefeld/Berlin, Oktober 2012, 59,50 €
Ausstellung vom 5. Oktober 2012 – noch bis zum 28. Januar 2013