Zunächst steht Mary Boyle (Katrin Wichmann) da und kämpft mit einer Zeitung. Sie will lesen, aber einzelne Seiten fallen auf den Boden. Mary hebt sie auf, sortiert sie ein, erneut fallen Seiten, die Mary wieder aufhebt und einsortiert, und die dann wieder fallen und wieder von Mary aufgehoben werden, wobei sie zunehmend in Wut gerät. Dass diese kleine Szene nicht komisch wirkt, könnte beabsichtigt sein, denn in dieser Zeitung wird über einen erschossenen jungen Mann aus der Nachbarschaft der Boyles berichtet.
Allerdings sind auch die Gags und Slapsticks im weiteren Verlauf der Vorstellung nicht wirklich komisch, weil sie allzu konstruiert erscheinen und keinen Bezug zu den handelnden Personen und zur jeweiligen Situation haben.
Erst einmal aber betritt Mrs. Boyle, genannt Juno, die Szene und lässt O’Caseys Welt lebendig werden. Anita Vulescia verkörpert grandios die handfeste Arbeiterfrau, die ganz allein für den Lebensunterhalt der Familie sorgen muss, weil ihr Mann sich erfolgreich vor jeder Arbeit drückt und am liebsten mit seinem Freund Joxer in der Kneipe hockt. Anita Vulescia versteht es, Pointen zu setzen und die poetische Sprache des Stücks, die auch in der deutschen Übersetzung von Lukas B. Suter spürbar ist, zum Klingen zu bringen.
Mit der Gestalt der Juno Boyle hat Sean O’Casey seiner Mutter ein Denkmal geschrieben. Leider hat er sie nicht zur Zentralfigur seines Dramas gemacht. Im Mittelpunkt stehen Mr. Boyle und Joxer, und Regisseur Milan Peschel hat sich in seiner Inszenierung ganz auf diese Beiden konzentriert. Auch wenn sie nicht allein auf der Bühne sind, befinden sich die beiden Helden immer im Zentrum, während die übrigen AkteurInnen sich irgendwie vergessen am Rand aufhalten.
Lediglich Johnny Boyle, der Sohn, der im Bürgerkrieg einen Arm verloren hat, führt ein Eigenleben. Ole Lagerpusch schleicht herum wie ein Gespenst und gestaltet den traumatisierten, von berechtigter Furcht zerfressenen, jungen Mann sehr eindringlich und differenziert mit Wut- und Verzweiflungsausbrüchen, leisen, ängstlichen Äußerungen und atemlosen Schweigen.
In einem im dt Magazin veröffentlichten Interview sagte Milan Peschel u.a.: „Man merkt, dass O’Casey seine Figuren liebt, mit all ihren Fehlern und Schwächen. Er verrät sie nie. Es ist der Wille zum Überleben, der seine Figuren so stark macht.“
Michael Schweighöfer als „Käptn“ Jack Boyle und Moritz Grove als „Joxer“ Daly sind weder liebenswert noch stark. Sie präsentieren extrem überzeichnete Karikaturen, die kaum noch etwas Menschliches an sich haben. Der jämmerliche Joxer erweckt gelegentlich Mitleid, aber letztlich entzieht sich diese stotternde, zappelnde Comicfigur der aufkommenden Empathie.
Jack Boyle hat wohl schon zu viele Federn gelassen, als dass er noch als Pfau zu erkennen wäre. Auch er ist eine armselige Kreatur, einfach ein heruntergekommener Säufer. Bei ihren Unterhaltungen brechen die beiden Freunde regelmäßig ganz unvermittelt in wüstes Gebrüll aus, in dem die Komik des Texts untergeht.
Mit ihren Bühnenbildern veranschaulicht Magdalena Musial die Geschichte der Familie Boyle: Zu Beginn ist eine unfertige Behausung zu sehen, einige Podeste mit kleinen Teppichen, und im Hintergrund ein Ofen mit rauchendem Schornstein, der heimische Herd unter Junos Obhut. Später gibt es eine Tür mit variierendem Standort. In Erwartung künftigen Reichtums wird die Innenausstattung bereichert, Möbel kommen hinzu, ein Grammophon und ein Bild, das, weil die Wände immer noch fehlen, auf einem Stuhl steht. Am Ende ist das Traumhaus der Boyles eine Bretterbude, die auf der Bühne zusammengenagelt wird. Das luxuriöse Sofa passt nicht durch den schmalen Eingang.
In einer beklemmenden Szene wird Johnny als Verräter im Haus zusammengeschlagen und dann zur Erschießung abgeführt.
Die übrigen Ereignisse ziehen eher unspektakulär vorbei. Milan Peschel hat seinen SchauspielerInnen beträchtliche Lautstärke verordnet. Häufig brüllen die ihre Dialogtexte wie Ausrufer ins Publikum.
Elias Arens ist als Marys Exfreund Jerry ähnlich überdreht wie Joxer und kühl und entschlossen als Schneider Nugent.
Magdalena Musial hat auch die, z.T. verblüffenden Kostüme entworfen. So paradiert Katharina Marie Schubert in einem, für eine arme Bewohnerin eines heruntergekommenen Mietshauses im Jahr 1922, erstaunlichen, grellroten Cocktailkleid und gestaltet ihre Auftritte als Mrs. Maisie Madigan mit kabarettistischer Prägnanz.
Weil das Zusammenspiel des Ensembles nicht stimmt, wirkt Katrin Klein als Kohlenverkäuferin nicht komisch, die Tragik ihrer Mrs. Tancred geht unter, und Bernd Moss nimmt als Notar und Marys neuer Verehrer, nicht wirklich Gestalt an.
Kurz vor Schluss des Stücks gibt es noch eine brillante Szene zwischen Mrs. Boyle und ihrer Tochter. Hier sind jedes Wort und jede Geste überzeugend. Aber die letzten Worte haben schließlich Mr. Boyle und Joxer, und bei ihnen verliert sich die Spannung wieder, die Anita Vulescia und Katrin Wichmann aufgebaut hatten.
Zum Ausklang bringt die in irischer Sprache gesungene Internationale das Publikum in Beifallsstimmung.
„Juno und der Pfau“ von Sean O’Casey hatte am 29.01. Premiere in den Kammerspielen. Weitere Vorstellungen: 09., 12., 19. und 28.02.2013.