“Clavigo” ist ein ambivalentes Stück. Die ausgedehnten Monologe, die gekünstelten Szenen, die aktionsarme Handlung kippen leicht ins Arrivierte. Der Handlungskonflikt ist jedoch aktuell. Richtete sich Goethe in der Form seines Jugendwerks nach dem Zeitgeschmack, brach er im Handlungsgefüge damit. Nicht Nebenbuhler, Gesellschaft oder Standesdünkel trennen Clavigo von seiner Verlobten. Nur persönlichen Zweifel stehen zwischen ihnen. Clavigos Verlassen Maries kann egoistisches Karrierestreben sein oder Opfer zu Gunsten des “höheren Ideals“ seiner politischen Karriere. Verantwortungslos gegenüber Marie, verantwortungsvoll gegenüber der Gesellschaft. Oder ist sein Beruf eine Ausrede, die Ausgenutzte sitzen zu lassen? Ist Clavigos Aussage, er habe Marie aus Hochachtung verlassen, fadenscheinige Rechtfertigung oder ein Zurückschrecken vor der Intensität seiner Gefühle? Für keine der Möglichkeiten kann sich Roger Vontobel entscheiden. Da kann sich Paul Herwig in der Hauptrolle noch so aufregen, auf die wie zum Stuhltanz aufgestellten Requisiten aus Tischen und Stühle turnen, sein Clavigo bleibt konturenlos. Der Hauptcharakter ist totes Zentrum, um das der emotionale Wirbelwind kreist. Erahnen lässt sich seine Persönlichkeit höchstens anhand seines Umfelds. Besonders an der sensibel agierenden Hilke Altefrohne, welche hier quasi eine Doppelrolle spielt. Eine passive, leidende Frauengestalt wie Marie sei heute kaum zumutbar, äußert Dramaturg Ludwig Haugk beim anschließenden Publikumsgespräch. Maries Figur wurde mit der ihres Bruders Beaumarchaise zusammengelegt. Wie glaubhaft, zeigt, dass der Mehrheit des Publikums diese Änderung entgeht. Die emotionale Zerrissenheit macht Marie zum Spiegelbild Clavigos. Ihre Gespaltenheit verdeutlicht Kostümbildnerin Dagmar Fabisch mit einem violetten Kleid für die schwache und einem schwarzen für die aktive Marie, welche die Dialoge Beaumarchais spricht
Wie Clavigo zwischen Karriere und Gefühl schwankt, pendelt Marie zwischen Leidenschaft und Duldsamkeit. Still sitzt sie neben Sophie, die anders als bei Goethe, nur ihre Schwester im Geiste ist. Mit leidenschaftsglühender Stimme reißt Katja Sieber jeder ihrer Szenen an sich. Ihre Worte über Sophies Rache üben, ihr “Spanierin sein”, saugt Marie in sich auf. Nach der Szene konfrontiert sie Clavigo. Der hochtrabende Redner schrumpft zum Drückeberger, den Marie ganz praktisch mit Klebeband fesselt, bevor sie es förmlich mittels eines niedergeschriebenen Schuldbekenntnisses tut. Vontobel erstellt ein stummes Bündnis zwischen den Frauen. Bei Goethe nicht selten verklärtes Ideal oder passive Dulderinnen, scheinen sie die unerreichte Auflösung des Konflikts, die Vereinigung von Verstand und Gefühl zu sein. Gegenstück ist Clavigos Freund Carlos. Bleibt Clavigo durch die inszenatorische Unentschlossenheit eine leere Hülle, erschafft Gunnar Teuber eine personifizierte Ratio. Mehr als mephistophelischer Intrigant, ist Carlos abgeklärter Pragmatiker. Ein Gestalt gewordenes “aber”. Nicht einmal den Mund öffnen muss er dafür, höchstens zum Rauchen. Erscheint Carlos auf der Bühne, tritt mit ihm Clavigos uneingestandener Zweifel auf. “Wenn die Menschen dich nicht bewundern oder beneiden, bist du nicht glücklich.”, erinnert Carlos den Freund. Clavigo weiß es, greift gierig nach jedem Grund, die Ehe zu vermeiden. “Die Welt urteilt nach dem Scheine.”, weiß er und die schwindsüchtige Marie kann dem optisch nicht genügen. Wer ihr Herz besitzt, sei zu beneiden. Aber beneidenswert ist Clavigo nicht. Trotz seiner Egozentrik, Großspurigkeit und Unentschlossenheit ist er kein Schurke. In Roger Vontobels Goethe-Interpretation wird er moderner Antiheld. Ein vom Leben verwöhnter, der sich den Luxus des Schwankens zwischen vielversprechender Karriere und Liebschaft leisten kann und an eben diesem Luxus zu Grunde geht.
Regisseur Roger Vontobel befreit Goethes Werk von seiner zeitgemäßen Theatralik und gibt es so dem Theater zurück. Angestaubte Rollenbilder, längliche Dialoge, unzeitgemäße Sprache werden rigoros rausgeworfen. Die Modernisierung macht das Stück erst spielbar und streitbar. Konzentriert und knapp tanzt es über die Bühne, wie seine Protagonisten sich in spanischen Tänzen wiegen. Das geht am Publikum nicht spurlos vorüber. “Manchmal fällst du auch mir auf die Nerven, Clavigo.” Ähnlich Carlos ist man bisweilen ermüdet von dem Hin und Her und würgt Sophie angesichts der Tragödie vor ihren Augen, empfand – das verriet das spöttische Kichern im Saal – mancher das als Urteil über Vontobels Bühnenadaption. Aber Provokation und Kontroverse zeichnen das Maxim-Gorki-Theater aus, genau wie sein Mut zu frischen Inszenierungen wie “Clavigo“. Streitbar wie sein Hauptcharakter bleibt die Klassikerinterpretation und dadurch seltsam textgerecht. Statt Karriere will Vontobels “Clavigo” den Konflikt. Der geling ihm.
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Titel: Clavigo von Johann Wolfgang von Goethe
Theater: Maxim-Gorki-Theater Berlin
Weitere Termine: 12. Mai 2009, 19.30 Uhr
Regie: Roger Vontobel
Bühne: Claudia Rohner
Darsteller: Paul Herwig, Hilke Altefrohne, Gunnar Teuber, Katja Sieber
Internet: www.gorki.de