Geld oder Leben

Schweizer Franken und Flagge. Quelle: Pixabay, Foto: moritz320

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Österreich und die Schweiz blieben lange Zeit von Terrorangriffen verschont. Nur drei Wochen nach dem terroristischen Amoklauf eines Einzeltäters, der Wien eine Nacht lang lahmgelegt hatte, ergriff die Schockwelle auch die Schweiz, als sich am Dienstag im Zentrum von Lugano eine sehr ähnliche Bluttat ereignete. Auch hier eine radikalisierte Einzeltäterin mit jihadistischem Hintergrund – und auch sie war, wie der Mordschütze von Wien nicht nur aktenkundig, sondern zuvor inhaftiert. Beide Mordaktionen fanden auf dem Höhepunkt der zweiten Corona-Welle statt – einer Zeit also schwerster Verunsicherung in der Öffentlichkeit. Staat und Behörden sehen sich mit einem Zweifrontenkrieg konfrontiert, auf höchst unterschiedlichen Schauplätzen. Und die Ratlosigkeit im Umgang mit beiden tödlichen Bedrohungen ist unverkennbar. In beiden Fällen fehlt die klare Strategie, welche das geschwundene Vertrauen in die staatlichen Organe erneut stärken könnte. Lockdown oder Lockerung? Menschenrechte für oder Härte gegen Terrorverdächtige?

Auch angesichts der Covid-Krise befindet sich der Staat in einem kaum lösbaren Dilemma. Eine unheilige Allianz aus besorgten Demokraten, chronischen Verharmlosern und gefährlichen Verschwörungstheoretikern schreit Zetermordio bei jeder Schutzmaßnahme, die der Staat der Bevölkerung auferlegt. Ökonomen verweisen auf die schweren wirtschaftlichen Einbußen, die der neue Lockdown der Volkswirtschaft zufügt – Arbeitslosigkeit, Wachstumsrückgang. Und Psychologen auf die Traumatisierung vieler: Menschen vereinsamen, Ehen zerbrechen – während andere wieder zu sich selbst, zu innerer Ruhe und sinnvollen Aktivitäten finden.

Das staatliche Dilemma spitzt sich auf die alte Formel zu: „Geld oder Leben“. Die Schweiz hat sich auf ihrem Sonderweg, dem föderalistischen Laissez-Faire gepaart mit liberaler Selbstgefälligkeit mit 3930 Covid-Toten zum Corona-Hotspot Europas entwickelt, die Entwicklung der Ansteckungen ist eine der steilsten weltweit. Die FAZ spricht von einem „Blindflug“ der Schweiz. Der ethische Aspekt ist höchst prekär: Der sozialdemokratische Gesundheitsminister Alain Berset spricht von einer Optimierung statt einem Gegensatz zwischen Gesundheit und Wirtschaft – sein Kollege von der rechtspopulistischen SVP, Finanzminister Ueli Maurer, gibt offen zu, die Schweiz sei nach jener Güterabwägung „bewusst ein gewisses Risiko eingegangen“. Das sei „durchaus okay“. Die NZZ fragt daher unverblümt: „Lässt die Schweiz aus Rücksicht auf die Wirtschaft Menschen sterben?“

Anmerkung:

Der Artikel von Dr. Charles E. Ritterband wurde am 26.11.2020 in „Voralberger Nachrichten“ erstveröffentlicht.

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