Dann hebt sich der Vorhang für den Untergang der Herrscherfamilie der Labdakiden. Ödipus, das Kind, das nicht hätte geboren werden dürfen, ist erwachsen und König von Theben. Ohne es zu wissen, hat er den Orakelspruch erfüllt, nach dem er seinen Vater töten und seine Mutter heiraten werde. Mit ihr hat er vier Kinder gezeugt. Aber jetzt wütet die Pest in der Stadt. Die Götter, so scheint es, strafen Menschen erbarmungslos für die Vergehen ihrer Vorfahren.
In Stephan Kimmigs Inszenierung erscheinen die Menschen eher als Täter denn als Opfer. Es geht um Macht, und vor allem um die Veränderungen, die Macht bei denen bewirkt, von denen sie ausgeübt wird.
„Ödipus Stadt“ besteht aus vier Dramen: „König Ödipus“ von Sophokles, „Sieben gegen Theben“ von Aischylos, „Die Phönizierinnen“ von Euripides und „Antigone“ von Sophokles. Gregor Schreiner hat eine ebenso klangvolle wie leicht verständliche Übersetzung ins Deutsche erstellt. In der dreiteiligen Textfassung werden die mythologischen Hintergründe und familiären Zusammenhänge angenehm deutlich.
Das Bühnenbild von Katja Haß ist eine von der Rampe bis in den Hintergrund der Bühne verlaufende hölzerne Schräge, die sich am Ende nach oben wölbt wie eine Halfpipe und auch an eine hochgezogene Brücke denken lässt. Auf diesem Laufsteg wird ohne Requisiten gespielt in einer brillanten Choreografie und mit hervorragend auf einander abgestimmten Dialogen.
Kostümbildnerin Johanna Pfau hat alle Mitwirkenden mit bis zu den Waden reichenden Röcken und ärmellosen Oberteilen in unterschiedlichen Farben ausgestattet. Die nackten Füße stecken in Schnürschuhen.
Ulrich Matthes als Ödipus, in Weiß mit einer Krone aus Goldpapier, sieht aus wie eine Schachfigur. Sein Gegenspieler Kreon (Susanne Wolff) trägt Schwarz, und die Partie, in der die Beiden einander gegenüber stehen, ist ein Kampf um die Macht, auch wenn der weiße König sich anfänglich noch in unangefochtener Position befindet und der schwarze Kontrahent sich seiner eigenen Ansprüche noch gar nicht bewusst ist.
Im Schnelldurchlauf sind die Verwandlungen eines Herrschers zu erkennen, der seine Macht verliert. Ödipus, der gute König, der Theben von der Sphinx befreit hat, ist davon überzeugt, dass er auch das Unheil vertreiben kann, das mit der Pest über Stadt gekommen ist. Als er erfährt, dass er selbst Ursache des Übels sein soll, vermutet er ein gegen ihn gerichtetes Komplott. Sein Schwager Kreon, bis dahin als kluger Ratgeber geschätzt, erscheint Ödipus nun als Verräter, und der König schreckt nicht einmal davor zurück, den blinden Seher Teiresias (Sven Lehmann) als Lügner zu beschimpfen und mit Verbannung oder Tod zu bedrohen.
Iokaste versucht, zu vermitteln. Während Ulrich Matthes dramatisch, mit großen Gesten, agiert, setzt Barbara Schnitzler sparsame Ausdrucksmittel ein. Ihre Iokaste verliert nie ganz die Beherrschung. Sie kämpft skrupellos für den Herrschaftsanspruch ihrer Familie. Dafür hat sie ihren Sohn geopfert. Als die schreckliche Wahrheit sich abzeichnet, dass dieser Sohn ihr Ehemann und Vater ihrer Kinder ist, versucht Iokaste, Ödipus daran zu hindern, weitere Nachforschungen anzustellen. Weil Ödipus darauf besteht, die Wahrheit zu ergründen, wendet Iokaste sich von ihm ab und ganz ihren Söhnen zu, den neuen Repräsentanten der Dynastie. Als die Familienherrschaft mit dem Tod von Eteokles und Polyneikes endet, nimmt Iokaste sich ganz selbstverständlich das Leben.
Ödipus dagegen überlebt, blind und von allen verstoßen, sein Schicksal beklagend.
In seiner Inszenierung stellt Stephan Kimmig immer wieder unterschiedliche Charaktere mit ihren unterschiedlichen Tempi in einem faszinierenden Spannungsfeld einander gegenüber. Auf temporeiche Dialoge folgen Bewegungsszenen, in denen Emotionen zum Ausdruck kommen, das Vergehen der Zeit spürbar wird oder eine neue Ära sich ankündigt.
Einmal rennen die AkteurInnen den steilen Abschnitt der Schräge hinauf, rutschen hinunter und versuchen wieder und wieder in dumpfer Verzweiflung, die Höhe zu erstürmen, in der die Schräge sich wölbt wie eine Welle, von der die Stadt verschlungen werden soll.
Den Krieg der Söhne des Ödipus kündigt Elias Arens als Eteokles auf dunkler Bühne mit einem beeindruckenden, beängstigenden Trommelsolo an. In der Auseinandersetzung mit seinem Bruder erweist Eteokles sich als arroganter, eiskalter Machtmensch, während Polyneikes (Moritz Grove) warmherzig und gutartig erscheint, obwohl er es doch ist, der ein fremdes Heer gegen Theben führt, um sein Recht auf Herrschaft zu erkämpfen.
Nähe zwischen DarstellerInnen und Publikum entsteht nur selten in kurzen Momenten. Stephan Kimmig setzt Verfremdungseffekte ein, um emotionale Anteilnahme einzudämmen. Moritz Grove, der auch den Hirten spielt, der Ödipus als Kind gefunden und gerettet hat, klebt sich auf offener Bühne einen Bart an, während er König Ödipus die Wahrheit über seine Herkunft enthüllt, und als die Handlung gegen Ende einen aussichtslos tragischen Verlauf nimmt, wird das Stück zeitweilig zur absurden Komödie.
Kreon gerät ganz allmählich unter den zerstörerischen Einfluss der Macht. Susanne Wolff gestaltet die Rolle ganz ohne typisch männliche Gesten. Ihre Bewegungen sind fließend und harmonisch. Dieser Kreon erscheint zunächst als kluger, feinfühliger Mensch, respektvoll und zurückhaltend. Anders als Iokaste, die ihren Sohn in der Wildnis aussetzen ließ, um ihre Familie vor Unheil zu bewahren, ist Kreon nicht bereit, zur Rettung der Stadt seinen Sohn zu opfern. Menoikeus jedoch opfert sich selbst gegen den Willen seines Vaters. In einer kurzen, erschütternden Szene trägt Kreon seinen toten jüngsten Sohn auf den Armen, der seine Ängste überwand, um ein Held zu werden und der einen ganz sinnlosen Tod gestorben ist.
Susanne Wolffs Kreon ist offensichtlich nicht zum König geboren. Die Macht, die ihm zufällt, erweckt seine Eitelkeit. Er posiert mit der Krone, probiert Herrschergesten und majestätische Schritte. So ganz scheint er selbst nicht von seiner Herrscherdarstellung überzeugt zu sein. Um so mehr fühlt Kreon sich aufgerufen, mit autoritären Verfügungen seine Position zu untermauern.
Kreon ordnet ein ehrenvolles Begräbnis für Eteokles an, während der Leichnam des Polyneikes vor die Stadttore geworfen werden soll. Für den Versuch, den Verräter zu begraben, droht die Todesstrafe.
Wie heillos der neue König sich in den Fallstricken der Macht verfangen hat, zeigt die absurd komische Szene zwischen Kreon und Moritz Grove als Wächter. Der meldet stammelnd und vor Angst schlotternd, dass die Leiche des Polyneikes mit Staub bestreut wurde. Auch Kreon fürchtet sich. Er ahnt, dass er zu weit gegangen ist, und er macht sich zum Narren, gerade weil ihm allzu sehr daran gelegen ist, ernst genommen und respektiert zu werden.
Der früher so vernünftige Kreon beharrt auf seinen unsinnigen Anordnungen und verurteilt die gegen das Unrecht rebellierende Antigone zum Tod. Auch sein Sohn Haimon vermag Kreon nicht umzustimmen.
Thorsten Hierse verkörpert sowohl den jungen Träumer Menoikeus als auch seinen aufrecht männlichen Bruder Haimon.
Erst Teiresias holt den verirrten König in die Wirklichkeit zurück. Sven Lehmann spielt den blinden Seher als kauzigen Alten, zu Wutausbrüchen neigend und mit dem Stock, auf dem er sich voran tastet, auch zornig um sich schlagend.
Bei seinem letzten Besuch in Theben ist Teiresias am Ende seiner Seherkunst. Um zu begreifen, woran die Stadt krankt, genügt ihm jedoch sein eigener Verstand. Er fordert Kreon auf, Polyneikes zu begraben und Antigone freizulassen. Teiresias appelliert an Kreons Vernunft, er flucht und droht, und um den Starrsinn des Königs zu brechen, verlegt sich der mürrische alte Mann sogar aufs Bitten.
Endlich gibt Kreon nach. Seine letzte Frage an Teiresias ist: „Aber bin ich dann noch König und kein Narr?“
Der Seher wirft seinen Stock weg und überlässt Kreon sich selbst. Der verwandelt sich innerhalb weniger Augenblicke in einen hilflosen Greis. Sein Körper scheint zusammenzuschrumpfen, er hebt den Stock des Teiresias auf, stützt sich tief gebeugt darauf und schlurft ein paar kleine Schritte voran, ehe er den Befehl gibt, Antigone zu befreien.
Die Einsicht des Königs kommt zu spät. Nur der Geist der toten Antigone tritt ihm noch gegenüber. Mit ihrer aufrüttelnden Anklage wendet sich Katrin Wichmann als Antigone jedoch nicht nur an Kreon, sondern vor allem ans Publikum, das nun, am Schluss des Stücks, in hellem Licht da sitzt und erstmals direkt angesprochen wird.
Angeklagt sind Alle, die sich blind, stumm und verlogen auf die Seite der Mächtigen stellen, die wieder und wieder Freiheit und Leben der nachfolgenden Generationen zerstören.
„Ödipus Stadt hatte am 31.08. Premiere im Deutschen Theater. Nächste Vorstellungen: 23.10. sowie 05., 09., 14. und 20.11.2012.