Berlin, Deutschland (Weltexpress). Eine Woche der Weihnachtsferien verbrachten wir bei Manchester, in der verfallenden Villa von Verwandten, wo ich als kleiner Karl Marx auftrat und der junge Lord und Erbe den Friedrich Engels spielte. Familienstreit, wir fuhren an die See. Bereits im September waren wir dorthin geflohen „to see The Lights“.
Blackpools Strandpromenade badete 10 Kilometer lang im Licht. Der Triumph der Glühbirne über Jahrtausende der Dunkelheit, und kein Schauplatz hätte ihm besser angemessen sein können, als diese Küste zwischen Industrie und Atlantik. Aber der gewaltige Einsatz an Energie ist leider nur vergeudet in läppischen Effekten und Bildern vom Niveau vorweihnachtlicher Kaufhausdekorationen. Nirgendwo sonst scheint das Meer so in den Hintergrund gedrängt wie hier. Es herrscht „der Turm“, jetzt ragt er, von Lichterketten nachgezeichnet, aus dem zerstäubten bunten Geflimmer hoch in den tiefvioletten Herbsthimmel. Ein Wahrzeichen – aber für welche Wahrheit? Dass der Mensch die Elemente nicht mehr zu fürchten braucht?
Das war mein Manchester-by-the-Sea. Weihnachten wurden wir ganz anders erleuchtet. Welche Wahrheit würde einen jetzt hier erwarten? Ich kam zu spät, der Kinosaal lag im Dunkeln. „Manchester by the Sea“ spielt in New England. „Wenn du alles gibst und doch die, die du liebst, nicht beschützen kannst, was macht das mit dir – als Mensch?“ Das war hier die Frage, sagte der Pressetext. Musste man dann die Macht der Elemente fürchten? Lee Chandler, durch Schicksalsschläge zum schweigsamen Mitmenschen geworden soll seinen Neffen Patrick unter seine Obhut nehmen. In Manchester am Meer, wo ein Feuer seine Ehe mit Randi zerstörte und seine bürgerliche Existenz. Kein Scherz mehr auf den Lippen wie früher, er lässt die Fäuste sprechen als Ausdruck seiner Sprachlosigkeit. Es führt kein Weg zurück in das Leben von einst. Man muss der Wahrheit ins Auge schauen. Die Elemente waren gegen Lee. Vor ihnen konnte er sich nicht schützen. Aber das Meer ist in diesem Manchester-by-the-Sea nicht dunkel und tot sondern hell und belebt.
Mit Patrick macht Lee ein Fischerboot flott, das Lieblingsprojekt seines Neffen. So kommen sie zusammen für kurze Zeit. Lee ist auf dem Wasser in seinem Element, wie früher als er hinaus fuhr um wieder heim zu kommen. Ein zuhause aber findest du, Mensch, nach dem alles verzehrenden Feuer nicht mehr – ist das wirklich die Wahrheit? Die Flucht in die Anonymität war und ist für Lee aber sicherlich das Falsche. Er glaubt Patrick nicht beschützen zu können, so wenig wie es Elise erlaubt wird, seiner Mutter. Dabei haben doch beide auf dem Wasser ihr Wahrzeichen gefunden. Und Lee sein Lachen inmitten all der unendlichen Traurigkeit.
Abspann in Auszügen
Premiere: 23. Januar 2016 beim Sundance Film Festival
Fünf Nominierungen für die Golden Globe Awards 2017
Regie und Drehbuch: Kenneth Lonergan
Produktion: Matt Damon
Musik: Lesley Barber
Casey Affleck: Lee Chandler
Lucas Hedges: Patrick
Michelle Williams: Randi
Gretchen Mol: Elise