London, VK (Weltexpress). Liz Truss, die zweite Premierministerin in der Geschichte Großbritanniens, hatte bereits als Kandidatin für das Amt der konservativen Parteichefin in einem Tweet forsch angekündigt, sie werde dann als Regierungschefin „hit the ground from day one“ („von Anfang an mit Begeisterung die Sache angehen“). Diese Ankündigung wurde eher belächelt und verschwand kleinlaut vom Tweet, doch der Kurs war klar: Truss wollte als „starke Frau“ in Downing Street einziehen und als „zweite Thatcher“ in die britische Geschichte eingehen. Und dass sie, ähnlich wie ihr unverkennbares Vorbild Margaret Thatcher vor 31 Jahren, eine Herkules-Aufgabe auf sich geladen hat, ist klar: Großbritannien ist heute der Kranke Mann am Rande Europas. Doch Truss versucht unverdrossen, Optimismus zu verbreiten: „Die besten Zeiten liegen noch vor uns“, pflegt sie zu sagen.
Truss räumte im Kabinett radikal auf. Dass sie dabei Angehörige nicht-weißer Minderheiten in Führungspositionen holte, ist ihr hoch anzurechnen. Doch die Sache ging erst einmal gründlich schief. Hals über Kopf ergriff sie Maßnahmen, die sich umgehend rächten: Mit der Ankündigung weit reichender Steuersenkungen, die vor allem Großverdienern zugutekommen sollten, stieß sie die ärmeren Schichten des Nordens, die sich unter Johnson den Konservativen zugewendet haben, zurück in die Arme der oppositionellen Labour-Partei. Diese, jahrelang im Hintertreffen, hat jetzt plötzlich einen Vorsprung von 17 Prozent vor den Tories. Das sieht schlecht aus für die Tories, die sich spätestens im Januar 2025 den Parlamentswahlen stellen müssen. Die Idee der Deckelung der Energiekosten war lobenswert, aber teuer. Ein gewaltiger Schuldenberg kommt auf die Briten zu, Hypotheken werden für viele Hauseigentümer unerschwinglich. Resultat: Die Finanzmärkte gerieten in schwere Turbulenzen, das Pfund Sterling, einst der Stolz dieser Nation, stürzte vorübergehend ins Bodenlose.
Nach Boris Johnson, der wegen seiner Party-Eskapaden im Covid-Lockdown zur beliebten Zielscheibe der gnadenlos geistreichen Satiriker wurde, scheint sich auch seine Nachfolgerin Truss bereits nach kürzester Amtszeit im Überlebenskampf zu befinden. Doch bei den Tories gibt es auf lange Sicht niemanden, der heute diese „mission impossible“ in Downing Street übernehmen könnte (oder auch nur wollte). Truss muss wohl oder übel weitermachen. Immerhin hat sie, diese hölzern auftretende Politikerin, erreicht, dass man sich insgeheim nach dem clownhaften Charme Boris Johnsons zurücksehnt. Sein Comeback ist nicht mehr auszuschließen.
Anmerkung:
Vorstehender Beitrag von Dr. Charles E. Ritterband wurde in Voralberger Nachrichten erstveröffentlicht.