Als sich Benjamin Britten (1913-1976) schon zum zweiten Mal – die erste war 1954 „The Turn of the Srew“ – eine literarische Vorlage des wundersamen Erzählers Henry James von 1893 vornahm, war er schon ein gemachter Mann, verfügte über Einfluß und nahm mit dieser Oper ein gesellschaftliches Problem auf, das in der Luft lag: nämlich „Nein“ zu Kriegen zu sagen. Das war Anfang der Siebziger, als die Vietnam Vernichtungsmaschinerie der USA stellvertretend für Krieg stand. Uns mutet es etwas seltsam an, daß diese Gespenstergeschichte in die Jetztzeit führt, aber Textbuch von Myfanwy Piper wie auch Inszenierung von Walter Sutcliffe tun alles, diese viktorianische Geschichte von Ehre und Moral einer adligen Offiziersfamilie im allgemein Menschlichen zu halten, wie es Britten wohl auch vorhatte. Er wollte auf jeden Fall mit diesem Zweiakter direkt in die britischen Wohnstuben gelangen, denn im Auftrag der BBC wurde „Owen Wingrave“ von ihm für das Fernsehen komponiert und am 16. Mai 1971 ausgestrahlt. Die Bühnenfassung hatte ihre Uraufführung in London 1973.
Der Vorhang geht nicht auf, sondern die schmale Bühne im Bockenheimer Depot – einem ehemaligen Straßenbahndepot aus der Zeit, als Industriebauten noch mit Ziegeln erbaut und außerordentlich schöner Architektur versehen waren – hat über die gesamte Breite Schiebewände erhalten, die sich an den verschiedenen Stellen öffnend und übereinanderschiebend dem Zuschauer jeweils das Gefühl vermitteln, wie im Guckkasten nur einen Teil der Bühnenwelt zu sehen, auf jeden Fall immer in einen Korridor zu blicken, der mal zur Treppe führt, mal in die Herrschaftsräume, mal ein Studierzimmer ausmacht oder sonstige Kabinette, die immer eine Augenfälligkeit haben: eine Enge, ein Ende der Fahnenstange, ein Ende der Welt sinnlich vorzuführen. Kaspar Glarner hat dieses einengende Bühnenbild geschaffen, in dem die vier Sängerinnen und fünf Sänger sich ständig mißverstehen, weil jeder vom anderen etwas anderes erwartet als dieser von sich selbst.
So ist es Owen Wingrave (Michael Nagy, aufrecht, ohne Moralinsäure), der als Letzter der Familie seinem Großvater Sir Philip (Hans Schöpflin) den ideellen Todesstoß versetzt, als er ihm auf dem Familiensitz Paramore in der fünften Szene mitteilt, daß er das Familienspiel nicht mehr mitspielt: Soldat zu sein. Vorausgegangen waren vier Szenen, in denen sich dieser Entschluß vorbereitet hatte, in der Militärakademie mit seinem Ausbilder Mr Coyle (Dietrich Volle) und dem Mitstudenten Lechmere (Julian Prégardien, sehr gut als Pendant stimmlich und in der Darstellung abgesetzt), dem Zusammenstoß mit der Tante, (Anja Fidelio Ulrich) die ihn zum Familiensitz beordert, der Halbwaise Kate (Jenny Carlstedt), die mitsamt der Mutter Mrs Julian (Anna Ryberg) dort leben darf und auf die gemeinsame Zukunft mit Owen baut. Diese Szenen, zu denen noch eine sechste, die Ankunft der Coyles und als Höhepunkt die siebte Szene mit dem abrupten Ende des Dinners gehört, haben durchaus etwas Rasantes, Spielerisches, aber eben auch durch die Bewegung – die Stellwände fahren hin und her, ständig sind neue Blickwinkel, immerzu tauchen neue Personen auf, gehen ab, kommen wieder – etwas Unruhiges. Mag sein, daß die auf schnelle Fernsehschnitte bedachte Konzeption dies vorgibt, aber bei allem Detailreichtum der Einzelszenen fehlte doch eine inhaltliche und musikalische Mitte, die getragen hätte, um ein wirkliches Interesse an diesem bedauernswerten Nachkommen einer Dynastie zu entwickeln.
Dies änderte sich flugs nach der Pause im zweiten Akt, der auf dem Familienschloß spielt. Neben dem braven Erzählton kommt jetzt auch das Gespenstische zum Tragen. Die Geschichte um das schreckliche Geheimnis vom Zimmer, in dem das Kind umkam, das den martialischen Ehrgesetzes nicht gehorchen wollte, wird vom Balladensänger (Richard Cox) in dem Ton der schaurig schönen Moritaten gebracht, die andeuten, daß es nur übel ausgehen kann mit dem jungen Spund da, der glaubt, er könne seinem Gewissen gehorchen und nicht den Standesregeln der Vorfahren. Zweifach wird diese Geschichte gebracht, auch Owen erzählt sie seinem Lehrer nebst Gattin, von denen Mrs Coyle (Barbara Zechmeister) in Darstellung und Stimme eine warmherzige mütterliche Frau ist, die man an der Seite eines Leiters einer Militärakademie nicht erwartet.
Dies wiederum ist ein Beispiel dafür, daß bei allem Plakativen, das einem solchen Stoff eigen ist, Britten sich dennoch nicht auf Platitüden einläßt, sondern versucht, Charaktere zu schaffen. Davon ist allerdings nur dieser so richtig gelungen, denn insbesondere die Damen, erst recht die anverlobte Kate, bleiben blaß, bzw. aufgeregt Agierende, was weder deren wahre Gefühle noch die falschen sichtbar macht. Aber im mitreißenden Zuge des zweiten Aktes kommt es auf die Einzelzeichnung nicht mehr so an, es ist ein Weg zu Tode, der beschritten wird, der eine Besonderheit hat, daß man eigentlich nicht so genau weiß, was in dem Gespensterzimmer passieren wird, in das sich Owen als geforderte Mutprobe durch die zickige Kate einsperren läßt. Einst, so weiß die Ballade, hat ein Wingrave es nicht ausgehalten, daß sein Sohn sich hat ohne Gegenwehr beschimpfen lassen, weshalb er ihn erschlug – in diesem Zimmer, in dem seitdem Vater und Sohn nächtlich hausen.
Hier nun geht auch Owen in den Tod, aber der Großvater kommt händeringend und den Jungen seiner Liebe versichernd an den Tatort. Seine Schuld ist keine der Hände, sondern die der Worte und Entscheidungen von Enterbung und Entehrung. Anlaß aber war letzten Endes die dumme Kate, die so den doch eigentlich begehrten Ehemann in den Tod schickte. Eine überzeugende Ensembleleistung, die die Oper Frankfurt hervorbrachte und an der die 15 Orchestermitglieder und zwei Bühnenmusiker unter der Leitung von Yuval Zorn ihren Anteil hatten. Was die Musik nun selbst angeht, sind wir uns nicht ganz schlüssig geworden. Man hört einfach zu vieles. Zu viele Stile, geschickt gereiht, mit denen Britten die Textpassagen gut hörbar untermalt, viel Illustration also, wo dann nicht so sehr die Musik, sondern die Handlung selbst Träger des Ganzen wird. Nur an einigen Momenten kommt das zusammen, so daß Wort und Ton eine eigene Wucht entfalten. Davon lebt der zweite Akt, der das Aperçu von Karl Kraus, daß der Begriff der Familienbande einen Beigeschmack von Wahrheit habe, zum tödlichen Ende führt. Und um dieses zweiten Aktes und einer richtig guten Ensembleleistung willen, sollte man diese kaum aufgeführte Oper sich schleunigst anhören.
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Aufführungen im Bockenheimer Depot am 28. und 31. Januar, 3., 4. und 7. Februar 2010. Internet: www.oper-frankfurt.de