Berlin, Deutschland (Weltexpress). „Mittwoch, der 14. September 1955, Flughafen Köln-Bonn, Bundeskanzler Konrad Adenauer ist aus Moskau zurück. Im ganzen Land scharen sich die Menschen um die Radioapparate“. Es ist der erste Satz des Buches „Heimatlos“ von Christopher Spatz. Es wird eingeleitet durch die Erzählung „Chor der Gefangenen“ von Arno Surminski: „Ein alter Mann tritt auf dem Rollfeld vor die Mikrofone: Zehn Jahre nach Ende des Krieges kehren die letzten Gefangenen heim, sagt er. So geht es über alle Sender. Im Radio spielen sie den ´Chor der Gefangenen`, das beliebteste Musikstück jener Jahre. Elke Schneider rief ihre Kinder in die Küche. Zu dritt umlagerten sie den schwarzen Kasten, und als die Musik verklungen war, sagte sie: Euer Vater kommt nach Hause!“ Begleitet von Hoffen und Bangen, ob er dabei ist. Ergreifend, wie hier ein Schicksal beschrieben wird, das für viele Tausende in der Nachkriegszeit steht. Verbunden mit unendlichem Leid, das auch Surminski als Kind durchleben musste und seine Werke geprägt hat.
Millionen Menschen querten die innerdeutsche Grenze von Ost nach West und passierten ab September 1945 das niedersächsische Grenzdurchgangslager Friedland. Sie kamen aus dem Kommunismus in den Kapitalismus, aus einer fremdgewordenen Heimat in eine ungewisse Zukunft. Für die Eintreffenden bedeutete das Lager ein Durchatmen, aber auch Abschied und Endgültigkeit. Empfangen wurden sie im Zeichen selbstloser Hilfsbereitschaft. Das Presseecho war enorm, die Symbolik verbindend. Getriebenheit, Verelendung und Rührseligkeit, Tod und Neuanfang bildeten hier ein verstörendes Nebeneinander.
Zahlreiche Aufnahmen des Fotoreporters Fritz Paul, viele davon bislang unveröffentlicht, bieten überraschende Blicke auf die Vertriebenen, Zivilverschleppten, Heimkehrer und Aussiedler der 1950er-Jahre. Für viele Angehörige, die damals Kinder oder Jugendliche waren und heute wissen wollen, „wie das war“, werden hier fündig und werden ihre Väter und Großväter, Onkel und Neffen verstehen lernen, wie sie das wurden, was sie aus ihnen wurde. Zumal manch einer an seinem Schicksal zerbrach und Unverständnis hinterließ. Hier werden Fragen beantwortet und Augen geöffnet.
Auch wird der Versuch unternommen, die Frage zu beantworten, was es bedeutet, entwurzelt zu sein oder wie man das Ankommen in einem neuen System empfindet und erlebt. „Friedland und die langen Schatten von Krieg und Vertreibung“, wie es im Untertitel so bezeichnend heißt. Wahrlich lange Schatten, die bis in unsere Zeit reichen.
Hier wird von dem entscheidenden Moment des Weltenwechsels und den Facetten der Heimatlosigkeit erzählt. Ein Stück deutscher Geschichte, das nicht der Vergessenheit anheimfallen darf. Das aufrüttelnde Buch von Christopher Spatz und Fritz Paul trägt beeindruckend dazu bei. Man kann ohne weiteres sagen, dass die Bearbeitung dieser Thematik bisher in dieser Form einmalig ist.
Bibliographische Angaben
Christopher Spatz mit Fotografien von Fritz Paul, Heimatlos, 224 Seiten, 88 Abbildungen, 1 Karte, gebunden, Verlag: Ellert & Richter Verlag, Hamburg, 2. Auflage, 2020, ISBN: 978-3-8319-0728-1 Preise: 19,95 EUR (Deutschland), 20,60 EUR (Österreich)
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