Wenn die Regierung das Bauen von 1600 neuen Wohneinheiten in Ost-Jerusalem einen Tag früher angekündigt hätte, wäre es in Ordnung gewesen. Wenn es drei Tage später angekündigt worden wäre, wäre es wunderbar gewesen. Aber es genau in dem Augenblick zu sagen, wenn Joe Biden mit Bibi und Sarah’le gemeinsam essen wollen – dann ist das wirklich ein schlechter Zeitpunkt.
Die Sache als solche ist gar nicht so wichtig. Weitere tausend Wohneinheiten in Ost-Jerusalem oder 10 000 oder 100 000 – welchen Unterschied macht das? Die einzige Sache, die hier wichtig ist, ist der Zeitpunkt.
Wie die Franzosen sagen: es ist schlimmer als ein Verbrechen – es ist dumm.
Das Wort „dumm“ war in dieser Woche auf Platz zwei nach „timing“.
Dummheit ist in der Politik ein akzeptiertes Phänomen. Ich würde fast sagen: um in der Politik Erfolg zu haben, ist eine Portion Dummheit nötig. Die Wähler mögen Politiker nicht, die zu intelligent sind. Sie lassen einen selbst minderwertig erscheinen. Andrerseits erscheint ein dummer Politiker wie „einer aus dem Volk“.
Die Geschichte ist voll mit Torheiten von Politikern. Viele Bücher sind darüber geschrieben worden. Meiner Meinung nach wurde der Inbegriff von Blödheit mit den Ereignissen erreicht, die zum ersten Weltkrieg mit seinen Millionen Opfern führten, der wegen zu viel Dummheit von österreichischen, russischen, deutschen, französischen und britischen Politikern (in dieser Reihenfolge) ausbrach.
Aber selbst in der Politik hat Dummheit ihre Grenzen. Ich habe Jahrzehnte lang über diese Frage nachgedacht, und wer weiß, eines Tages, wenn ich erwachsen sein werde, könnte ich eine Doktorarbeit darüber schreiben.
Meine These ist folgende: in der Politik geschehen (wie auch auf andern Gebieten) törichte Dinge. Aber einige Dinge werden noch rechtzeitig angehalten, bevor sie zur Katastrophe führen, andere dagegen nicht. Ist das zufällig, oder gibt es da eine Regel?
Meine Antwort wäre: gewiss gibt es eine Regel. Es funktioniert folgendermaßen: wenn jemand aus Dummheit eine Sache in Bewegung setzt, die gegen den Geist des Regimes läuft, wird sie auf ihrem Weg gestoppt. Während sie von einem Bürokraten zum anderen kommt, wird sich einer wundern: Moment mal, hier stimmt doch etwas nicht. Sie wird zu einer höherstehenden Autorität gebracht, und am Ende entscheidet jemand, dass hier ein Fehler vorliegt.
Wenn der Akt der Torheit andrerseits aber mit dem Geist des Regimes übereinstimmt, gibt es keine Bremsen. Wenn er von einem Bürokraten zum nächsten weiter gereicht wird, sieht alles für beide ganz normal aus. Kein rotes Warnlicht. Keine Alarmglocke. Und so läuft die Torheit bis an ihr bitteres Ende.
Ich erinnere mich, wie mir diese Regel das erste Mal ins Bewusstsein kam. Es war 1965 als Habib Bourguiba, der Präsident von Tunesien, einen kühnen Schritt wagte: er hielt im größten Flüchtlingslager in Jericho, das damals zu Jordanien gehörte, eine Rede und rief die Araber dazu auf, Israel anzuerkennen. Dies löste einen Riesenskandal in der ganzen arabischen Welt aus.
Einige Zeit später berichtete der Korrespondent einer israelischen Zeitung, dass bei einer Pressekonferenz im UN-Hauptquartier Bourguiba zur Zerstörung Israels aufgerufen habe. Das erschien mir sehr seltsam. Ich stellte Nachforschungen an, untersuchte die Protokolle und fand heraus, dass das Gegenteil der Fall war: der Reporter hatte versehentlich eine Verneinung in eine Bejahung vertauscht.
Wie konnte das geschehen? Wenn der Journalist in der entgegengesetzten Richtung sich geirrt hätte und z.B. berichtet hätte, dass Gamal Abd-el-Nasser zur Aufnahme Israels in die Arabische Liga aufgerufen hätte, dann wären die Nachrichten sofort gestoppt worden. Jedes rote Warnlicht hätte aufgeleuchtet. Irgend jemand würde aufgeschrieen haben: He, hier stimmt etwas nicht! Bitte, noch einmal kontrollieren. Aber im Fall Bourguiba merkte keiner den Fehler; denn was ist für einen arabischen Führer natürlicher, als zur Zerstörung Israels aufzurufen? Da ist keine Überprüfung nötig.
Dies geschah in dieser Woche in Jerusalem. Jeder Regierungsbeamte weiß, dass der nationalistische Ministerpräsident die Judaisierung Ost-Jerusalems voranbringen will, dass der extrem nationalistische Innenminister sogar noch eifriger ist und dass der supernationalistische Bürgermeister praktisch davon genüsslich ins Schwärmen gerät , wenn er sich ein jüdisches Viertel auf dem Tempelberg vorstellt. Warum also sollte ein Bürokrat die Bestätigung eines neuen jüdischen Stadtteils in Ostjerusalem verschieben? Nur wegen des Besuches eines amerikanischen Schwätzers?
Deshalb ist der Zeitpunkt nicht wichtig. Die Sache selbst ist wichtig.
Während seiner letzten Tage im Amt veröffentlichte Bill Clinton einen Friedensplan, in dem er versuchte, acht Jahre Versäumnisse in dieser Region und das Katzbuckeln vor mehreren israelischen Regierungen wieder gut zu machen. Der Plan war vergleichsweise vernünftig, aber schloss eine Zeitbombe mit ein.
Was Ost-Jerusalem betraf, schlug Clinton vor, dass das, was jüdisch ist, dem Staat Israel und was arabisch ist, dem Staat Palästina angeschlossen werden soll. Er vermutete (zu recht, glaube ich), dass Yassir Arafat zu solch einem Kompromiss, der einige neue jüdische Stadtviertel Ostjerusalems an Israel angeschlossen hätte, bereit gewesen wäre. Aber Clinton war nicht klug genug, die Konsequenzen seines Vorschlags vorauszusehen.
Praktisch war es für die israelische Regierung eine direkte Einladung, so schnell wie möglich neue Siedlungen in Ost-Jerusalem zu errichten, da man erwartete, dass sie ein Teil Israels werden würden. Und tatsächlich haben die einander folgenden israelischen Regierungen seitdem alle erreichbaren Ressourcen in diese Bemühung gesteckt. Da Geld nicht stinkt, wurde jeder jüdische Casinobesitzer in Amerika und jeder jüdische Bordellbesitzer in Europa eingeladen, diese Bemühungen zu unterstützen. Die biblische Anordnung – „Du sollst keinen Hurenlohn noch Hundegeld in das Haus des Herrn, deines Gottes, bringen ”¦.; denn diese sind dem Herrn, deinem Gott, ein Gräuel „(5.Mos. 23,19) – wurde für diesen heiligen Zweck suspendiert.
Jetzt wird das Bauen noch mehr beschleunigt. Weil es keine wirksameren Mittel gibt, den Frieden zu zerstören als neue Siedlungen in Ost-Jerusalem zu bauen.
Es ist für jeden klar, der sich mit der Region befasst hat: ohne einen unabhängigen palästinensischen Staat gibt es keinen Frieden, ohne Ost-Jerusalem gibt es keinen palästinensischen Staat. Darüber gibt es völlige Einmütigkeit bei allen Palästinensern, von der Fatah bis zur Hamas und bei allen Arabern von Marokko bis zum Irak und bei allen Muslimen von Nigeria bis zum Iran.
Es wird keinen Frieden geben ohne die palästinensische Flagge über dem Haram Asch-Sharif, den Heiligen Stätten des Islam, die wir den „Tempelberg“ nennen. Das ist eine eiserne Regel. Araber können beim Flüchtlingsproblem einen Kompromiss eingehen, so schmerzlich er ist, ebenso bei den Grenzen, was auch mit Schmerzen verbunden ist, und sogar bei Sicherheitsfragen. Aber sie können keinen Kompromiss wegen Ost-Jerusalem machen, das zur Hauptstadt Palästinas werden soll. Alle nationalen und religiösen Leidenschaften laufen hier zusammen.
Jeder, der alle Chancen für Frieden zerstören will, muss hier handeln. Die Siedler und ihre Unterstützer, die wissen, dass jedes Friedensabkommen die Auflösung (mindestens) der meisten Siedlungen einschließen wird, haben in der Vergangenheit (und wahrscheinlich auch jetzt) geplant, die Moscheen auf dem Tempelberg in die Luft zu jagen, und hoffen, dass dies einen weltweiten Großbrand auslösen wird, der ein für alle Mal die Friedenschancen in Asche verwandeln würde.
Weniger extreme Leute träumen von einer schleichenden ethnischen Säuberung von Ost-Jerusalem durch Verwaltungsschikanen, Hauszerstörungen, Verweigerung des Lebensunterhaltes und indem man das Leben für Araber im allgemeinen miserabel macht. Moderate des rechten Flügels wollen nur, dass jeder leere Quadratmeter in Ost-Jerusalem zu einem jüdischen Wohnviertel wird. Das Ziel ist letzten Endes immer dasselbe.
Diese Realität ist Obama und seinen Beratern natürlich bestens bekannt. Anfangs glaubten sie in ihrer Unschuld, dass sie Netanyahu & Co mit süßen Worten dazu bringen könnten, die Bautätigkeit einzustellen, um die Verhandlungen für eine Zwei-Staatenlösung zu erleichtern. Doch sehr bald merkten sie, dass dies unmöglich ist, ohne massiven Druck auszuüben – und sie waren nicht bereit, dies zu tun.
Nach einem kurzen und erbärmlichen Kampf gab Obama nach. Er war einverstanden mit der Vortäuschung des „Einfrierens des Siedlungsbaus“ in der Westbank. Jetzt geht das Bauen dort mit großer Begeisterung weiter, und die Siedler sind zufrieden. Sie haben mit ihren Demonstrationen völlig aufgehört.
In Jerusalem gab es nicht einmal eine Farce – Netanyahu erklärte Obama, dass er dort weiterbauen würde („wie in Tel Aviv“) und Obama senkte seinen Kopf. Als die israelischen Regierungsbeamten in dieser Woche einen großartigen Plan verkündigten, nämlich den neunen Stadtteil Ramat Shlomo zu bauen, verletzten sie keine Verpflichtung. Nur die Sache mit dem „timing“ blieb.
Für Joe Biden war es eine Ehrensache. Für Mahmoud Abbas ist es eine Existenzfrage.
Unter intensivem Druck der Amerikaner und ihrer Agenten, der Herrscher der arabischen Länder, war Abbas gezwungen, Verhandlungen mit der Netanyahu-Regierung zuzustimmen, wenn auch nur als „indirekte“.
Natürlich werden diese „Gespräche“ zu keinem Ergebnis kommen – abgesehen von weiteren Demütigungen für die Palästinenser. Ganz einfach: jeder, der in Ost-Jerusalem und in der Westbank baut, verkündet im voraus, dass es keine Chance für ein Abkommen gibt. Kein vernünftiger Israeli würde Milliarden in ein Gebiet investieren, das er bald dem palästinensischen Staat überlassen muss. Jemand, der eine Pizza isst, wird nicht ehrlich um sie verhandeln.
Selbst in diesem späten Stadium hoffen Abbas und seine Leute, dass sich irgend etwas Gutes aus all dem ergeben wird: die USA wird anerkennen, dass sie Recht haben und schließlich wirklichen Druck auf Israel ausüben, um die Zwei-Staaten-Lösung zu realisieren.
Aber Biden und Obama geben nicht viel Grund zu Hoffnung. Sie wischten die Spucke aus dem Gesicht und lächelten höflich. In einem Sprichwort heißt es: wenn man einem Schwächling ins Gesicht spuckt, tut er so, als wäre es Regen. Passt dies zu einem Präsidenten des mächtigsten Landes der Welt ?
Anmerkungen:
Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Der Beitrag wurde unter www.uri-avnery.de am 13.03.2010 erstveröffentlicht. Alle Rechte beim Autor.