Berlin, Deutschland (Weltexpress). „Wir“ schaffen das? In nationalistischer Tradition redete Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Neujahrsansprache vom ominösen „Wir“. Vermutlich meint er damit so etwas wie „die guten Deutschen“. Doch diese Gruppe existiert nicht. Der Widerspruch herrscht zwischen oben und unten.
Die Neujahrsansprache von Bundeskanzler Scholz dürfte Vielen ein müdes Gähnen entlockt haben. Schwups – da war sie wieder: Die Erinnerung an das berühmte „Wir schaffen das“ seiner Vorgängerin Angela Merkel. „Wir kommen da durch“, tönte Scholz. Und: „Wir“ müssten uns „mit Respekt begegnen“, „wir“ würden jetzt „investieren“ und „wir“ kämen „mit Gegenwind zurecht“. Da stellt sich doch eine Frage: Wer bitteschön ist dieses ominöse „Wir“?
Im Klassenstaat existiert kein Wir
Die kurze Antwort ist: Es gibt kein „Wir“. Was es gibt, sind Milliardäre und Multimillionäre, die durch die Coronakrise, den Ukrainekrieg, den Nordstream-Terroranschlag, die Energie-Subventionen und so weiter noch viel reicher als zuvor geworden sind. Es gibt auch Millionen von Menschen, Tendenz steigend, die nicht mehr wissen, wovon sie Lebensmittel, Miete, Heizung und Strom bezahlen sollen.
Es gibt Politiker, die sich für PR-Auftritte im Interesse des Großkapitals fürstlich aus dem Steuertopf bedienen. Und es gibt Hunderttausende Rentner, die sich trotz Gebrechlichkeit ihre mageren Altersbezüge mit Flaschensammeln oder dem Austragen von Zeitungen über Wasser halten müssen.
Da sind die Reichen, die sich zunehmend abschotten und mannigfaltige Steuerschlupflöcher nutzen. Da sind Politiker und Staatsbedienstete, die zur Räson aufrufen, Meinungen verbieten, Demonstranten verprügeln. Da sind Journalisten und Akademiker, die ungeniert immer heftiger die Kriegstrommeln rühren und gegen Arme hetzen. Da ist der Mittelstand, der immer verzweifelter überlegt, wie er die Pleite abwenden kann. Und da sind Pflege- und Putzkräfte, die unterirdische Arbeitsbedingungen ertragen.
Um das abzukürzen: In einem zunehmend autoritären Klassenstaat, in dem die Armen mehr und die Reichen reicher werden, die Lohnabhängigen immer tiefer in die Taschen greifen müssen, um ihr banales Überleben zu finanzieren, Politik und Medien die verschiedenen Bevölkerungsgruppen rabiat gegeneinander ausspielen und eine Faulheitsdebatte oder Kriegstrommelei die nächste jagt, kann es kein „Wir“ geben.
„Wir und die“ heißt teilen und herrschen
Die Wahrheit ist: Scholz´ pathetische Floskeln nach Merkels Motto „Wir schaffen das“, verbunden mit wachsender Kriegslüsternheit, Aufrüstung und Waffenlieferungen, ist ein Abklatsch der Propaganda Rechtsextremer. Dieses „Wir“ impliziert eine völkische und nationale Überlegenheit, die dem unwerteren Anderen, dem Fremden, gegenübersteht: Wir und unsere westlichen Werte – und die da, die Rückständigen, moralisch Unterlegenen, Wertloseren oder besonders Bösen.
Man kennt dieses „Wir“, das immer dann verstärkt zum Einsatz kommt, wenn Herrschende eine Bevölkerung dazu animieren wollen, in Kriege zu ziehen, Militarisierung gut zu heißen, Feindbilder zu akzeptieren, den Abbau von Arbeits- und sozialen Rechten zu rechtfertigen und so weiter.
Dieses „Wir“ schließt wechselnde Gruppen ein. Mal gehören dazu die „Fleißigen“, die sich gegen „Faule“ wehren sollen. Ein andermal umfasst es die „moralisch Guten“ und „politisch Korrekten“, die gegen Abtrünnige mobil machen sollen.
In den Jahren 2020 bis 2022 schloss die Politik in ihr propagiertes „Wir“ die „Vernünftigen“ ein, die ihre Feinde im „Maskenmuffel“ und „Impfgegner“ erkennen sollten. Nahtlos wechselte die „Wir-Gruppe“ dann zum Kreis der Fans der Ukraine und ihrer Banderisten, zu deren Gegnern vermeintliche „Putinversteher“ gemacht wurden. Das ist klassisches Teilen und Herrschen.
Völkisch-nationalistische Tradition
Ein politisch verordnetes, völkisch-nationalistisches „Wir“, das den Klassenstaat ignoriert, findet sich nicht nur in der heutigen Bundesrepublik. Die Nazis missbrauchten es einst für ethnische Säuberungen von Minderheiten, die sie für minderwertig erklärten, darunter Juden, Roma und Sinti, Kommunisten und Sozialisten. Die ukrainische Führung betreibt selbiges unter ähnlichen Vorzeichen; es geht dort vor allem gegen russischstämmige und russischsprachige Menschen, gegen Linke und Regimekritiker.
Wohl meint Scholz dieses „Wir“ weniger völkisch, als dies in den genannten Beispielen der Fall war oder ist. Seine Ambitionen dürften vor allem auf die Unterwerfung der „kleinen Leute“ abzielen: unter imperialistische Interessen des NATO-Lagers, unter die proklamierte nationalistische Kriegsbereitschaft, unter die miserablen Arbeitsbedingungen, wachsende Armut, politische Räson und sonstige „westliche Werte“: Wir, die Deutschen, gegen den Rest der Welt oder Unliebsame im eigenen Land.
Klassenwiderspruch verleugnet
Doch wer wie Scholz im Unklaren lässt, wer genau dieses Wir denn genau sein soll, macht seinen Gehalt wandelbar und die Bevölkerung nach Lust und Laune dirigierbar. Den unguten Hauch des „Herrenmenschlichen“ transportiert es allemal. Nur die Gruppe der „Besseren“ kann wechseln. Oder besser gesagt: Die propagierte Gruppe, die real nicht existiert.
Was dieses „Wir“ stets transportiert, ist die Verleugnung der Macht- und Eigentumsverhältnisse und der daraus resultierenden Klassen, die sich in totalem Widerspruch gegenüber stehen. Das Interesse reicher Unternehmer und Großaktionäre ist es, die möglichst gering zu halten und wenig in gute Arbeitsbedingungen zu investieren. Das steht den Interessen der Arbeitenden diametral entgegen.
Der tatsächliche Widerspruch herrscht nicht zwischen Deutschen und Ausländern, auch nicht zwischen politisch Korrekten und Unkorrekten. Der Widerspruch besteht einzig zwischen oben und unten, zwischen ökonomisch Besitzenden und Besitzlosen. Diese Realität allerdings versuchen die Herrschenden seit jeher zu verschleiern. In diese Tradition reiht sich Scholz´ Wir-Propaganda nahtlos ein.
Anmerkung:
Vorstehender Beitrag von Susan Bonath wurde am 31.12.2023 in „RT DE“ erstveröffentlicht. Die Seiten von „RT“ sind über den Tor-Browser zu empfangen.