Berlin, BRD (Weltexpress). Während unserer Arbeit als Korrespondenten der Nachrichtgenagentur ADN der DDR (1967-1970) in Hanoi hatten wir – meine Frau Irene als Fotoreporterin – und ich – das große Glück, den Führer des nationalen Befreiungskampfes Vietnams, Ho Chi Minh, mehrmals persönlich zu begegnen. Der 55. Jahrestag seines Todes am 3. September 1969, war Anlass, mit diesem Beitrag an ihn zu erinnern. Unter den Begegnungen waren nicht nur persönliche zu verstehen, bei denen wir direkt mit ihm zusammen trafen, mit ihm sprachen, er uns die Hand drückte, uns freundschaftlich umarmte, sich nach unserem Befinden erkundigte, wir in einer unvergesslichen Weise die kaum wiederzugebende Ausstrahlung dieser faszinierenden Persönlichkeit spürten, an der nichts von Personenkult zu bemerken war. So war es auch während einer Festveranstaltung am 19. Dezember 1967 zum 23. Jahrestag der Gründung der Volksarmee . Als Irene auf der Bühne Ho fotografierte, rief er sie zu sich und unterhielt sich mit ihr über ihre Arbeit. Er war aber auch immer bei den Begegnungen, die wir mit den Menschen Vietnams hatten, anwesend, bei den vielen Gesprächen, er war einfach dabei und er lebte, auch nach seinem Tod, im Kampf seines Volkes weiter.
Der Onkel
Die Vietnamesen nannten ihn verehrungsvoll Onkel Ho. Keinem seiner Nachfolger wurde diese vertrauliche Anrede zu Teil. Darin lag sicher keine Geringschätzung, eher eine Herausstellung der einmaligen Persönlichkeit dieses legendären Führers. Journalisten und die vielen Besucher, die sich ihm freundschaftlich verbunden fühlten, nannten ihn einfach Camerade Ho. Seine sprichwörtliche Bescheidenheit, seine Anspruchslosigkeit, die seine Gegner gern als gekünstelt, als einstudiert, als politisches Kalkül darstellten, entsprachen seiner Verbundenheit mit den Menschen aus dem Volk. Er wollte nicht besser leben als sie, es hätte ihn unglücklich gemacht, soll er einmal gesagt haben. Schon das ein wunderbares Vermächtnis, das er hinterlassen hat.
Im Park des Hanoier Präsidentenpalastes, in den er sich zu den Amtsgeschäften begab, bewohnte er einen kleinen hübschen Holzbau mit nur zwei Zimmern. Wenn er Freunde in Hanoi besuchte, ging er meist zu Fuß. Sicher war das auch ein bewusster Verzicht, mit dem er seine Verbundenheit mit den Millionen einfacher Menschen ausdrücken wollte. Die Revolution hatte sie vom Hungerdasein befreit, konnte ihnen aber zunächst nichts weiter als einfache menschenwürdige Lebensbedingungen garantieren, verlangte von ihnen bei der Verteidigung der Unabhängigkeit hohe Opfer bis zum Einsatz des Lebens. Damit hat er ein ausschlaggebendes persönliches Beispiel für den Massenheroismus seines Volkes gegeben, aber auch ausgestrahlt auf die Menschen in der Dritten Welt. Sein Testament, das er vier Monate vor seinem Tod, im Mai 1969, verfasste, ist durchdrungen von der Liebe zu seinem Volk und der unerschütterlichen Gewissheit, dass es bis zum Sieg kämpfen werde.1
Man möchte fast sagen, dass seine herausragende Führerpersönlichkeit erst nach seinem Tod sichtbar wurde. Denn als er während des erbitterten Befreiungskrieges gegen die USA-Aggressoren und das südvietnamesische Marionettenregime im September 1969 starb, hinterließ er nicht, worauf seine Feinde spekuliert hatten, ein Vakuum, sondern eine kampfgestählte Partei mit einem starken Führungskollektiv, und ein von seinem Unabhängigkeitswillen beseeltes Volk, die sein Werk fortsetzten. Während in der Öffentlichkeit in Hanoi nicht bekannt geworden war, dass der Gesundheitszustand des Präsidenten sich verschlechterte, war das seinen Feinden offensichtlich nicht verborgen geblieben. Denn als wir im Frühjahr 1969 in Vientiane, der Hauptstadt des von den USA beherrschten Teils von Laos, Gespräche mit französischen und amerikanischen Journalisten und Diplomaten hatten, konzentrierten sich vor allem bei letzteren die versteckten Fragen immer wieder auf dieses Thema. Washington erwartete, dass der Tod Ho Chi Minhs die Widerstandskraft Vietnams lähmen würde. Nichts dergleichen geschah jedoch. Seine Nachfolger verfügten zwar nicht über seine menschliche Ausstrahlung, aber sie setzten sein Werk fort, ohne in innerparteiliche Machtkämpfe zu verfallen.
Die Führerpersönlichkeit
Nach der Niederlage des Sozialismus in Europa wurde es dem Zeitgeist entsprechend Mode, die Rolle einer führenden Partei beim Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft zu negieren, sie einfach auszuklammern, nicht zu erwähnen, wenn sie nicht überhaupt diffamiert und verleumdet wird. Gerade die Beschäftigung mit Ho Chi Minh vermittelt indessen in besonderem Maße Erkenntnisse, Lehren und Erfahrungen über sein jahrzehntelanges Wirken beim Aufbau und dann an der Spitze des Staates und der kommunistischen Partei. Dabei hat Ho die meiste Zeit seiner politischen Laufbahn in der DRV darauf verzichtet, die in anderen sozialistischen Staaten übliche Konzentration von Partei- und Staatsführung in einer Hand zu praktizieren. Er hatte nie den Posten des Generalsekretärs inne, war aber auch ohne diesen Rang stets der unbestrittene Führer. Zwangsläufig zwingt das zum Nachdenken über die Bedeutung von wirklichen Führerpersönlichkeiten.
Ho Chi Minh, auf Vietnamesisch „der weise Gewordene“, war das bekannteste von mehreren seiner Pseudonyme. Er führte es seit den dreißiger Jahren und behielt es bis zu seinem Lebensende. Er wurde am 19. Mai 1990 in Kim Lien in der Provinz Nghe Anh in Zentralvietnam geboren. Der Vater war Büffelhirt und Knecht auf einem kleinen Gut, ehe er die Tochter des Besitzers heiratete. Ab 1913 bis 1919 arbeitete er als Schiffskoch, Matrose und Transportarbeiter auf französischen und britischen Schiffen, lebte einige Zeit in Großbritannien und hielt sich mehrfach in den USA auf, wo er sich auch als Tellerwäscher durchschlug. Danach siedelte er nach Frankreich über, wo sein Weg zum Kommunisten begann.
Der Leninist
In Frankreich waren vietnamesische Emigranten, zumeist Intellektuelle und Matrosen, bereits vor dem Ersten Weltkrieg mit dem Klassenkampf des Proletariats und seinen Zielen und dabei mit den Lehren des Sozialismus in Berührung gekommen. Ihre Zahl stieg sprunghaft an, als während des Krieges fast 100.000 Vietnamesen für den Dienst in der französischen Armee oder für die Arbeit in der Rüstungsindustrie rekrutiert und nach Frankreich verbracht wurden. Viele von ihnen traten in die Gewerkschaften, linke Jugend- und Studentenorganisationen ein, nicht wenige auch
in die sozialistische und später die kommunistische Partei. Frühzeitig gingen die meisten auf Distanz zur Politik der sozialistischen Parteiführung und damit zu den Parteien der II. Internationale. Keiner von ihnen wusste wohl zu dieser Zeit etwas von Lenins Schriften über den Opportunismus und seine verheerenden Auswirkungen in den sozialistischen Parteien. Aber sie erkannten, dass deren Führungen, aber auch ein Teil der Mitglieder, die Politik ihrer Regierungen der Ausbeutung und Unterdrückung der Kolonialvölker billigten
bzw. sie auch unterstützten. Vom Marxismus wussten die vietnamesischen Emigranten meist wenig. Diejenigen, die sich nach und nach zum Marxismus-Leninismus und zur Kommunistischen Internationale bekannten, gingen diesen Weg unter dem Einfluss der Oktoberrevolution und der Haltung Lenins zur kolonialen Frage.
Ho selbst hat dazu in der ihm eigenen Einfachheit und Ehrlichkeit 1960 in einem Beitrag für die Juli-Ausgabe des Pariser „Echo du Vietnam“ unter dem Titel „Der Weg, der mich zum Leninismus führte“ geschrieben, dass er die Frage, welche Internationale den Kampf der unterdrückten Völker unterstütze, in einer Versammlung der Sozialisten stellte. „Einige Genossen antworteten: Die Dritte Internationale und nicht die Zweite! Ein Genosse gab mir die Thesen Lenins über das Problem der Nationalitäten und der Kolonialvölker zu lesen, die die ‚Humanité’ veröffentlicht hatte. In diesem Buch gab es politische Ausdrücke, die ich nur schwer verstand. Indem ich sie aber las und immer wieder las, begriff ich schließlich den Sinn. Lenins Gedanken bewegten mich stark, und ich war begeistert. Ein großes Vertrauen half mir, die Probleme klar zu sehen. Meine Freude war derartig, dass mir manchmal Tränen in die Augen traten. Allein in meinem Zimmer, rief ich aus, als stünde ich vor einer großen Volksmenge: ‚Liebe Landsleute, Unterdrückte und Elende! Hier ist, was wir brauchen, hier ist der Weg zu eurer Befreiung!’ Von nun an hatte ich absolutes Vertrauen in Lenin und die Dritte Internationale,“
Mitbegründer der FKP
Ho Chi Minh wurde schon bald nach seiner Ankunft in Frankreich politisch aktiv. Während er sich als Fotograf und mit anderen Gelegenheitsarbeiten durchs Leben schlug, arbeitete er für die „Humanité“ und „La Vie ouvrière“, die Zeitung der CGT, für die er zahlreiche Beiträge zum antikolonialen Widerstand, schieb. Er lernte den Enkel von Karl Marx, Jean Longuet, kennen, in dessen Zeitung „Populaire“ er ebenfalls publizierte. Bald gründete er eine eigene Zeitung, das Wochenblatt „Le Paria“, in dem er scharf die französische Kolonialpolitik attackierte. Die auch in Indochina verbreitete Zeitung widmete sich gleichzeitig der sozialistischen Bildungsarbeit. Aufsehen unter den vietnamesischen Emigranten erregte Ho, der zu dieser Zeit seinen Namen Nguyen Ai-Quoc noch nicht abgelegt hatte, als er während der Versailler Friedenskonferenz den Teilnehmern ein Memorandum mit der Forderung übergab, den Völkern Indochinas die Unabhängigkeit zu gewähren.
Als Vertreter der Emigranten der französischen Kolonien wird Ho im Dezember 1920 zum sozialistischen Parteitag in Tours delegiert, auf dem er mit dem die Mehrheit stellenden linken Flügel für die Konstituierung der FKP und für ihre Aufnahme in die III. Internationale stimmt In den Jahren seiner Tätigkeit in der FKP ist Ho Chi Minh einer der fähigsten und aktivsten Experten für Kolonialfragen und Sprecher der FKP-Mitglieder aus den Kolonien. Im Juni/Juli 1924 nimmt er in Moskau am V. Weltkongress der KI teil. In seiner Rede zur kolonialen Frage fordert er von den kommunistischen Parteien der „Mutterländer“, die Volksmassen der kolonial unterdrückten Völker in ihren eigenen antiimperialistischen Kampf einzubeziehen. Während seiner Moskauer Zeit ist er vielseitig tätig. Er studiert und lehrt gleichzeitig an der Universität der Völker des Ostens, arbeitet in der KI und der Bauerninternationale mit, wird Mitglied der Asiensektion der KI und Leiter ihrer Südostasienabteilung.
Sein Hauptaugenmerk gilt der Schaffung einer kommunistischen Partei in Vietnam. Er arbeitet, wie es schon zu dieser Zeit, da er zu den hervorragenden Funktionären der KI zählt, seine Art war, im Stillen, ließ seine Ideen reifen und hob sich abzeichnende Erfolge nicht hervor, was wohl dazu beitrug, dass er von den großen Auseinandersetzungen in der kommunistischen Weltorganisation nicht erfasst wurde.
Wegbereiter der Partei
Während er sich 1925 in China aufhielt, bildete er in Kanton mit vietnamesischen Emigranten die Liga der Revolutionären Jugend Vietnams, die zum wichtigsten Vorläufer der KPV wurde. Zu seinen engsten Kampfgefährten gehörte Pham Van Dong, der spätere Ministerpräsident der DRV. Als Vertreter der Komintern delegierte er Mitglieder der Jugendliga zum Studium nach Moskau, darunter an die Militärakademie der Roten Armee, sowie an die militärische Lehranstalt Huang Pu bei Kanton, an der sowjetische Militärs Offiziere der Volksbefreiungsarmee als auch der Truppen Tschiang kai-schecks lehrten.2 Sie alle kämpften später in den Reihen der Roten Garden der Sowjets von Nghe Tinh. Andere Mitglieder gingen nach Vietnam, um dort bereits Basiszellen für die künftige Partei vorzubereiten.
In seiner Schrift „Der revolutionäre Weg“, die 1926 erschien, skizzierte er in seiner für das Volk leicht verständlichen Sprache Grundfragen des nationalen Befreiungskampfes und die Notwendigkeit, dazu eine revolutionäre Kampfpartei zu schaffen.3 Zwischen 1927 bis 1929 befasste er sich im Auftrag des EKKI in verschiedenen Ländern Europas und Asiens mit dem Kampf nationaler Befreiungsorganisationen. Das EKKI drängt auf die Schaffung einer einheitlichen KP in Vietnam. Nach mühevoller Arbeit erreichte Ho am 3. Februar 1930, dass in Hongkong Vertreter der drei kommunistischen Organisationen Vietnams bzw. Indochinas die Vereinigung zu einer einheitlichen KP beschlossen: Es waren die aus der Revolutionären Jugendliga hervorgegangene Kommunistische Partei Indochinas, die Kommunistische Partei Annams und die Indochinesische Kommunistische Liga. Da alle Organisationen mehrheitlich aus Vietnamesen bestanden, nahm die Organisation zunächst den Namen Kommunistische Partei Vietnams an. Das Zentralkomitee nahm seinen illegalen Sitz in Haiphong. In ihrem Programm definierte die Partei den nationalen Befreiungskampf zur Beseitigung des Kolonialregimes als seinem Charakter nach bürgerlich-demokratische Revolution, die dann aber immer spezifische vietnamesische Züge aufwies. Die Partei unterschied – was in den meisten KPs innerhalb der nationalen Befreiungsbewegung in dieser Zeit nicht der Fall war – zwischen der nationalen Bourgeoisie als einem Verbündeten und der auf der Seite der Kolonialmacht stehenden Kompradorenbourgeoisie und richtete den Hauptstoß gegen die Kolonialmacht und ihre feudalen Stützen. Das EKKI nahm auf seiner Tagung im März/April 1931 die Partei in die KI auf.
Um ihre Zuständigkeit für den nationalen Befreiungskampf in der ganzen Kolonie Indochina zu betonen, nannte sich die KPV ab Oktober 1930 Kommunistische Partei Indochinas. Zugleich wurde der Sitz des Zentralkomitees nach Saigon verlegt. Als im Herbst 1930 in Zentralvietnam spontan ein Bauernaufstand ausbrach, stellt sich die junge Partei an seine Spitze.
Einheitsfronterfahrungen für den VII. Weltkongress
In die Beratungen des VII. Weltkongresses der Komintern 1935 in Moskau brachte die KPI erste Erfahrungen über eine antiimperialistische Einheitsfront ein – zu dieser Zeit ein seltenes Beispiel in den nationalen Bewegungen der Kolonien. Noch während des Bauernaufstandes in Nghe Tinh und den Kämpfen um die Sowjets hatte die Partei sich auf ihrem Plenum im Oktober 1930 mit dieser Frage befasst und ein Statut für eine „Indochinesische Antiimperialistische Einheitsfront“ erarbeitet. Wenn es in der Massenbewegung von 1930/31 auch über Ansätze nicht hinausging, waren die Erfahrungen der KPI auch unter internationalen Aspekten von Bedeutung und trugen in Vietnam selbst 1941 zur Formierung der Viet Minh bei.4
Die Sowjets von 1930/31 sind ein beredtes Beispiel wie Ho dieser Bewegung ein spezifisches vietnamesisches Gesicht gab. Zwar wurde das Beispiel der in der Oktoberrevolution geborenen sowjetischen Rätemacht erwähnt, aber die Bezeichnung „Xo Viet“ gewählt. „Xo„ übersetzt man aus dem vietnamesischen mit „Räte“. Ihnen wurde hinzugefügt „Viet“. Daraus ergibt sich die Hervorhebung „Vietnamesische Räte“.
Nach der Teilnahme am VII. Weltkongress der KI kehrte Ho 1938 nach China und dann nach Vietnam zurück. 1941 leitete er die Gründung der Unabhängigkeitsfront Viet Minh. Das Guomindang-Regime unter Tschiang kai-Tscheck, das die nationale Befreiungsbewegung Vietnams unter seine Kontrolle bringen wollte, verfolgte viele Vietnamesen und verhaftete Ho Ende 1941 als er wieder in China weilte. Ende 1943 gelang ihm die Flucht und er kehrte nach Vietnam zurück, wo unter seiner Leitung der bewaffnete Befreiungskampf vorbereitet wurde, der zum Sieg der Augustrevolution 1945 führt. Am 2. September rief er den unabhängigen vietnamesischen Nationalstaat, die Demokratische Republik Vietnam, aus.
Die neuen Kampfbedingungen führen zum Entstehen eigener Befreiungsorganisationen bzw. Parteien in Laos und Kambodscha. Davon ausgehend konstituiert sich am 19. Februar 1951 auf dem II. Parteitag die KPI als Partei der Werktätigen Vietnams, zu deren Vorsitzenden der Kongress Ho Chi Minh wählte. Sowohl im achtjährigen Befreiungskrieg gegen die französischen Kolonialisten als während der Abwehr der USA-Aggression war er bis zu seinem Tod die Seele des Widerstandes.
Die Mehrheit im Kampf gewinnen
Ho Chi Minh war vor allem Leninist, aber das von echtem Schrot und Korn. Er entwickelte schöpferisch eine nationale Strategie; war ein Mann der revolutionären Praxis, der die Theorie beherrschte, ein Führer und Kämpfer, der die Aufmerksamkeit der Massen nicht auf seine Person bezog, sondern auf die Partei lenkte. Im großen Kreis hervorragender revolutionärer Führer Vietnams trat er weder dozierend noch mit bevormundenden Weisungen auf. So ist beispielsweise in den zahlreichen Dokumenten über die Schlacht von Dien Bien Phu, während deren ganzen Verlauf er anwesend war und das nicht nur in sicheren Gefechtsständen hinter den Frontlinien, zu erkennen, dass er eine Führung besonderer Art praktizierte. Er ließ sich die Lage erläutern, stellte Fragen, oft scheinbar nebensächlicher Art, die aber plötzlich ins Zentrum strategischer Überlegungen rückten und von Vo Nguyen Giap und seinem Stab ausführlich erörtert und zur Grundlage der Weisungen des Oberbefehlshabers wurden. Oder er sprach mit den Trägern, die Tonnenschwere Waffen, Munition und anderen Nachschub über die Berge transportierten, fragte, ob es nicht zu schwer sei, ob sie es schafften, wo die Familien seien, wie es ihnen gehe, und vieles andere mehr.
Die vietnamesische KP bewies seit ihrer Gründung, dass man die Mehrheit des Volkes in der revolutionären Aktion gewinnt und dass diese nicht erst begonnen werden kann – was auch heute noch eine weit verbreitete Illusion ist – wenn die Hauptmasse zum Kampf bereit ist. Ho Chi Minhs erster Zirkel, den er zur Vorbereitung der Parteigründung bildete, zählte 1925 ganze 20 Genossen. 1930, im Jahr ihrer Formierung, waren es dann 1.828. Obwohl im gesamtnationalen Rahmen entscheidende objektive als auch subjektive Voraussetzungen fehlten, um die Erhebung zum Sieg zu führen, stellte sich die junge Partei im Sommer 1930 an die Spitze des spontan ausgebrochenen Bauernaufstandes und der Sowjetbewegung in Zentralvietnam. Denn für die Situation traf im Herbst 1930 prinzipiell zu, was Lenin bei der Würdigung der konsequenten Haltung von Marx gegenüber dem himmelstürmenden Proletariat der Pariser Kommune sagte: „Eine Niederlage der revolutionären Aktion in dieser Situation, wie in vielen anderen, war vom Standpunkt des Marx´schen dialektischen Materialismus für den Gang und Ausgang des proletarischen Kampfes das kleinere Übel, als ein Verzicht auf die einmal eingenommene Position, als eine Kapitulation ohne Kampf: eine solche Kapitulation hätte das Proletariat demoralisiert, seine Kampffähigkeit untergraben.“5
Vater der nationalen Minderheiten
Herausragendes leistete Ho bei der Integrierung der nationalen Minderheiten in die vietnamesische Gesellschaft. In Vietnam leben mehr als 60 Minderheiten, die 13 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Während die Kinh, die nationale Mehrheit, meist in der Ebene, vor allem im Delta des Roten Flusses und des Mekong leben, bevölkern die Minderheiten die zwei Drittel des Landes bedeckenden Bergregionen. Neben der Vielfalt von fast 50 unterschiedlichen Sprachen bzw. Dialekten und Kulturen herrschten vor der Gründung der DRV, bei den einzelnen Minderheiten unterschiedlich ausgeprägt, Züge fast aller vorkapitalistischen sozialökonomischen Formationen vor: Überreste der Gentilordnung, Stammesverhältnisse mit Merkmalen der der Feudalordnung bildeten die Basis für gesellschaftliche Verhältnisse, in der tiefste Unwissenheit, völliger Analphabetismus, asiatisches Mittelalter mit Totenkult sowie Geisterglauben und damit größte sozialökonomische Rückschrittlichkeit, Stagnation und für die Mehrheit dieser Menschen großes Elend vorherrschten. Während eine Anzahl Minderheiten die Technik bewässerter Reisfelder übernommen hatte, betrieben die meisten der als Halbnomaden lebenden Stämme noch Brandrodung oder lebten überwiegend als Sammler, Jäger und Fischer. Stammeszwist und kriegerische Traditionen sowie eine historisch bedingte Abneigung gegen die Kinh ausnutzend, hatte die Kolonialmacht versucht, die Minderheiten gegeneinander aufzuwiegeln und aus einzelnen Stämmen einheimische Spezialtruppen aufzustellen und gegen die Befreiungsbewegung einzusetzen. Die USA setzten diese Praxis fort und formierten vor allem in Laos unter den Meo eine Division gegen die Laotische Befreiungsfront.
In Vietnam war es der Viet Minh gelungen, viele Angehörige der Bergvölker für ihren Kampf zu gewinnen. Ho Chi Minh bewies, dass es sich dabei um kein Zweckbündnis gehandelt hatte, sondern ihm und seiner Partei die Völkerfreundschaft auf nationaler Ebene eine Herzensangelegenheit war. Wie kein zweiter hat er hier die Leninschen Gedanken von der nationalen Frage verwirklicht und gezeigt, dass es ihm immer um die Einheit von Wort und Tat ging. Bei der Regierung der DRV schuf er ein Komitee der nationalen Minderheiten, dessen Vorsitzender Mitglied des Kabinetts war. Auf persönliche Initiative Ho Chi Minhs erließ die Nationalversammlung ein Statut auf dessen Grundlage nach 1954 in Nordvietnam 15 autonome Zonen der Minderheiten geschaffen wurden, die über eigene Bildungseinrichtungen verfügten. Ein Stammesführer wurde General und Mitglied des Politbüros, zahlreiche weitere Angehörige der Minderheiten hatte hohe Funktionen im Staatsapparat und in der Volksarmee inne. Ihre Angehörigen konnten an allen Schulen und Universitäten studieren. Ho persönlich beauftragte Linguisten die Dialekte der Bergvölker in eine Schriftsprache zu fassen, Ethnologen sammelten ihre Lieder, Märchen und Mythen.6 Ho Chi Minh sorgte dafür, dass die Politik gegenüber den Bergvölkern mit Geduld und Überzeugung verwirklicht wurde. Davon zeugte beispielsweise, dass erst 1960 die Polygamie aufgehoben wurde und es auch danach jedem Mann, der noch mit einer zweiten Frau verheiratet war, freigestellt wurde, dieses Gesetz zu befolgen. Trennungen mussten im gegenseitigem Einvernehmen erfolgen und einer zweiten Frau, die den Mann verließ, stand entsprechender Unterhalt zu.
Revolutionäre Geduld
Zu den herausragenden Fähigkeiten Ho´s gehörte revolutionäre Geduld, die Kräfteverhältnisse real einzuschätzen, darunter auch die internationalen Faktoren. In den Auseinandersetzungen mit Frankreich nach der Gründung der DRV ging er bis an die Grenze der Kompromissbereitschaft und war sogar bereit, den unabhängigen vietnamesischen Staat in der Französischen Union zu belassen. Als die USA die Genfer Indochina-Abkommen von 1954 wie einen Fetzen Papier zerrissen, Südvietnam okkupierten und mit der Liquidierung des Sozialismus im Norden drohten, wollte ein starke Strömung in der Partei den bewaffneten Kampf im Süden sofort wieder aufnahmen. Ho mahnte zu Geduld und zum Abwarten.
Es würde jedoch nicht der Persönlichkeit Ho´s entsprechen, ihn als einen Mann ohne Fehl und Tadel darzustellen, den Weg der Partei unter seiner Führung als stets gradlinig, ohne Abweichungen oder Probleme. Er tolerierte oder musste hinnehmen, dass von den Bergstämmen der Meo angebautes Opium nach dem erneuten Einfall der Franzosen in Honkong zu Waffenkäufen verwendet wurde.7 Während der Bodenreform, die 1953 eingeleitet und nach dem Sieg in Dien Bien Phu im Norden realisiert wurde, gab es Überspitzungen. Landeigentümer, die nach den Landesverhältnissen Großbauern waren, wurden wie Großgrundbesitzer enteignet, manchmal auch als offene Feinde behandelt. Ho korrigierte diese linken Abweichungen. Er setzte Funktionäre, die nicht seinen ehernen moralischen Vorstellungen entsprachen ab, aber sie verschwanden nicht in der Versenkung, konnten sich bewähren und neue Aufgaben übernehmen. Parteisäuberungen, denen unschuldige Genossen zum Opfer fielen, gab es nicht.
Ho litt schwer unter der Spaltung der kommunistischen Weltbewegung, deren Auswirkungen die vietnamesische Partei am eigenen Leib verspürte. Die Haltung zur KPdSU und zur KPCH war seit der Gründung der DRV stets eine zentrale Frage in der Politik der Partei und Ho Chi Minhs. Dass er dabei, wie Jean Lacouture, einer seiner Biographen einschätzte, zwischen beiden lavierte ist keine treffende Wertung. So wie es unzutreffend ist, seinen Gedankengängen “etwas Naives und Einfältiges“ zu unterstellen.8 Es ging ihm immer um ein ausgewogenes Verhältnis, das natürlich von Pragmatismus geprägt war und auch ein bestimmtes Taktieren einschloss.
Vorbehalte gegenüber Chrutschschow
Die Entwicklung, die unter Chruschtschow nach dem XX. Parteitag in der KPdSU einsetzte und einen Faktor darstellte, der zu neuen Konflikten mit der KPCh führte, wurde in der PWV mit großen Vorbehalten und mit Sorge verfolgt. Frühzeitig spürte die Partei Auswirkungen der sich später offen zeigenden Tendenzen der „Rangerhöhung der Politik der friedlichen Koexistenz“ und der Aushöhlung „dieser Politik als Form des Klassenkampfes“ 9 auf ihren eigenen Kampf. Während unserer Arbeit in Hanoi spürten wir in Gesprächen mit sowjetischen Diplomaten und Journalisten, dass die sowjetische Seite eine Befreiung des Süden im bewaffneten Kampf lange Zeit kaum für möglich hielt und hier Hanoi zur Zurückhaltung bzw. auch zur Hinnahme des Status Quo mahnte. Ein Umdenken unter den sowjetischen Militärs setzte erst nach und nach seit der Tet-Offensive im Frühjahr 1968 ein. Dabei spielte auch eine Rolle, dass sowjetische Militärs in Vietnam mehr als anderswo in der Dritten Welt ihr Waffen unter härtesten Kriegsbedingungen in den Händen kampfentschlossener Soldaten erproben konnten. Als der Sieg in Saigon errungen wurde, war das auch ein Sieg, der vor allem mit sowjetischen Waffen errungen wurde. Man hatte in der DRV auch lange Zeit nicht vergessen, dass die diplomatische Anerkennung durch die UdSSR erst 1950 im Ergebnis der Gründung der VR China erfolgte.
Trotzdem stand die DRV in allen grundsätzlichen Fragen stets hinter der UdSSR. Das wurde besonders offensichtlich als sie sich mit dem Einmarsch der Warschauer Vertragsstaaten im August 1968 in die CSSR solidarisierte, der unter dem Kurs der Kulturrevolution von Peking scharf verurteilt wurde. Diese Haltung ergab sich besonders aus zwei Faktoren: Das feudale Vietnam war über 1.000 Jahre vom ebenfalls feudalen China beherrscht worden, was tief im Bewusstsein des Volkes verwurzelt blieb. Auch die Volksrepublik übte einen gewissen, zuweilen auch starken Druck aus. So wurden wir im Frühjahr 1968, in der Zeit der „Kulturrevolution“, während einer Reise in die vietnamesischen Nordprovinzen, die uns bis zur chinesischen Grenze führte, Zeugen massiver Einmischung chinesischer Militärs in die Angelegenheiten der DRV. Wir hatten streckenweise den Eindruck, es seien chinesische Besatzungstruppen anwesend. Zum zweiten waren sich die Militärs der DRV mit Vo Nguyen Giap an der Spitze vor allem nach dem Beginn der USA-Luftaggression im klaren darüber, dass nur die UdSSR die militär-technischen Kapazitäten besaß, mit der die DRV wirksam verteidigt und später die Streitkräfte im Süden mit den erforderlichen schweren Waffen für offensive Operationen ausgerüstet werden konnten.
Die Distanz zu Peking wurde größer als Anfang der 70er Jahre die verständliche Normalisierung der Beziehungen der Volksrepublik mit den USA unter antisowjetischen Akzenten erfolgte. Zehn Jahre nach Ho Chi Minhs Tod erlebte Vietnam dann den Einfall chinesischer Truppen in seine Nordprovinzen, um Hanoi dafür „zu bestrafen“, dass es Kambodscha von der Herrschaft des blutigen Pol Pot-Regimes befreit hatte.
Anmerkungen:
Gerhard Feldbauer schrieb über Vietnam u. a. :
- Mit Irene Feldbauer: Sieg in Saigon, Erinnerungen an Vietnam, Pahl Rugenstein Nachf., 2. Auflage, Bonn 2006.
- Die nationale Befreiungsrevolution Vietnams, Zum Entstehen ihrer wesentlichen Bedingungen von 1925 bis 1945, Pahl Rugenstein Nachf., Bonn 2007.
- Vor 75 Jahren siegte in Vietnam die Augustrevolution. Ho Chi Minh rief am 2. September 1945 die Demokratische Republik Vietnam aus. Schriftenreihe “Konsequent” der DKP Berlin, Ausgabe 2/2020.
1 Leo Figueres(Hg.): Ho Chi Minh. Notre Camerade. Souveniers des Militants francais. Paris 1970, S. 263 ff..
2 Die Lehranstalt wurde von der KP Chinas und der Guo Min Dang während der Periode der Einheitsfront gemeinsam unterhalten.
3 „Nhan Dan“, 3. Jan. 1970.
4 Das Aktionsprogramm der KPI von 1932, in: „Internationale Pressekorrespondenz“, Nr. 72 bis 74/1932.
5 Lenin, Werke Bd. 21, Berlin (DDR) 1969, S. 67 f.
6 Nguyen Khac Vien (Hg.): Region Montagneuse. Hanoi 1967.
7 Erich Wulff: Schule der Revolutionäre, „Volkszeitung“, 18. Mai 1990.
8 Jean Lacouture: Ho Tschi Minh, Frankfurt/Main 1968
1968, S. 229, 232
9 Kurt Gossweiler : Wider den Revisionismus, München 1997, S. 327 f.
Gegenüber der ersten Fassung, die am 26.10.2024 im WELTEXPRESS veröffentlicht wurde, ist dies die im ersten Absatz ergänzte zweite Fassung des Beitrages „Erinnerungen an Ho Chi Minh“ von Gerhard Feldbauer, die am 27.10.2024, 17.30 Uhr, veröffentlicht wurde.