Das ist das eine, das uns sagen lässt: Ja, trotz vieler Erinnerungen in Buchform an die Verbrechen der Nazis, brauchen wir diese von Margot Kleinberger für unser kulturelles Gedächtnis, denn sie spricht mit ihrer eigenen, ganz unverwechselbaren Stimme von unsäglichem Leid. Auch von der Kraft, die so ein kleines Kind entwickeln kann, sich, wenn schon nicht für die ganze Menschheit, so doch für die Menschen um sie herum aufzuopfern und klug und verwegen in den allerschwierigsten Lebenssituationen sein Kind, seine Jugendliche zu stehen, daß einem beim Lesen der Mund offen stehen bleibt, ob ihrer Courage und auch ihrem Mitgefühl, ein Kind, das um seine Kindheit und Jugend gebracht wurde, aber überleben durfte. Und man macht sich auch Gedanken über die Willfährigkeit und den Gehorsam von Frauen, die sich von Eltern – und wohl aus Respekt vor und Liebe zu ihnen – sehr lange ihren Lebensweg und Lebenspartner bestimmen lassen und dennoch ein ganzes Leben ein tätiges Mitglied der Gesellschaft werden: Frauen als Sozialschmiere.
Als erstes fragt man sich, warum erscheint dieses Buch erst 2009? 64 Jahre nach der Befreiung der überlebenden Häftlinge von Theresienstadt? Wir hätten erst einmal vermutet, daß in der Nachkriegszeit keiner davon hören wollte und daß auch die Überlebenden teils mit schlechtem Gewissen, daß sie am Leben bleiben durften und so viele um sie herum, ganze Familien ausgelöscht wurden, sich nicht als die Leidtragenden äußern wollten, wo die Trauer über verlorenes Leben erst einmal den Toten zustand. Wir hätten vermutet, daß nach dem Überleben ein tätiges Leben dagegen stand, gegen die Erinnerung, die einen erneut in die Verzweiflung treibt, der wirtschaftliche Aufbau eines neuen Lebens, eine Ehe und Kinder, das ökonomische und gesellschaftliche Überleben ganz praktisch nach dem biologischen Überleben.
Im Nachwort geht die Autorin darauf ein, bestätigt auch unsere Vermutungen, sieht aber das Hauptargument darin, daß sie ihrer Kinder wegen, insgesamt sechs aus zwei Ehen, geschwiegen habe, damit diese eine unbeschwerte Kindheit hätten und nicht vom Leid der Mutter erführen. Und dieselben Motive sind es jetzt, die bei ihr zu einer anderen Bewertung gelangen. Der Kinder und vor allem der Kindeskinder wegen, hat sie sich entschlossen, jetzt das schriftlich zu äußern, was sie seit Jahren in Berichten in Schulklassen, in Interviews und öffentlichen Einmischungen von ihren Erfahrungen eine kleines Judenmädchens im Nazideutschland, das überlebte, geäußert hatte. Mag auch sein, daß das fortschreitende Alter einen zwingt, diese kindliche Erinnerung heute wichtiger zu nehmen und aufzuschreiben, erst recht, wenn die Beteiligten dahinsterben und man es für eine Warnung für die Zukunft nimmt. Ganz sicher kommt aber ein allgemeines psychologisches Phänomen hinzu: Je älter man wird, desto stärker fängt man an, sich an die frühesten Jahre zu erinnern und viele Details auf einmal zu wissen, die einem ein Leben lang entfallen waren, oder die man erfolgreich verdrängt hatte.
Im Vorwort äußert Margot Kleinberger, daß ihre Erinnerungen subjektiv seien. Daß sind Erinnerungen immer, aber wir wissen zudem durch die Gedächtnisforschung, daß Erinnerungen trügerisch sind und auch täglich neue Facetten betont werden können. Um so etwas geht es hier überhaupt nicht. Trotz der unglaublich detaillierten Erinnerung der kleinen Margot und der jugendlichen Margot, die alle Namen weiß und die Orte auch, gibt uns dieses Buch etwas Wichtigeres: das authentische Empfinden eines Kindes und des jungen Mädchens angesichts der anfänglichen Ausgrenzung, als die Nazis sich in Deutschland verbreiten und den Judenhaß verbreitern, angesichts der zunehmenden Repressalien und des Unrechts, angesichts der Zusammenpferchung wie Vieh in Wagen und der Deportation in die Vernichtungslager. Es gelingt Margot Kleinberger auch, in den Darstellungen des mörderischen Alltags in Theresienstadt und ihrer eigenen Rolle, so etwas wie eine Analyse des Lagerlebens fertigzubringen, das, was einst Eugen Kogon mit dem „SS-Staat“ als Systematik der Vernichtung gelang.
Geboren 1931 lebt sie in bürgerlichen Verhältnissen, der Vater hatte im 1. Weltkrieg ein Bein verloren und auch deshalb eine Beamtenposition bei der Reichsbank erhalten. „Mein Vater war ein guter Deutscher und ein religiöser Jude.“ (13). Den engen Familienzusammenhalt und ihr Verhältnis zu den Verwandten beschreibt die Autorin kurz, aber innig und auch, wie sie nach Hannover gelangt, eine Stadt, die ihr eigentlich nicht gefällt, wo sie aber aufwächst und nach Theresienstadt dorthin zurückkehrt und dort bleibt. „1938 lebten in Hannover noch 2000 Juden. Anfang der dreißiger Jahre waren es noch knapp 6000 Juden gewesen”¦,,Im Juli 1942 wurde ich mit meiner Familie in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert.“ (7) Von 1941 bis 1945 wurden rund 140 000 Menschen in dies Lager gebracht, in dem zeitweise 40 000 Menschen unter erbärmlichen Bedingungen vegetierten, von denen am 8. Mai 1945 noch
17 000 Personen die Befreiung erlebten. Rund eine Million Kinder wurden in die Vernichtungslager im Osten deportiert, von den knapp 15 000 Kindern im KZ Theresienstadt haben etwa 20 überlebt, von denen nun eine spricht.
Wir wollen und können die furchtbaren Erlebnisse der Margot Kleinberger hier nicht wiedergeben, das muß man original lesen, damit man miterlebt, wie das ist, wenn sich ein Kind zunehmend ausgegrenzt fühlt, später verfolgt an Leib und Leben dem Tode stetig nahe. Wie empfindet das ein Kind, wie eine Jugendliche? Was erlebt sie, wenn sie im Lager als Versuchskaninchen für die Medizin von Ärzten mit allen Giften vollgepumpt wird, die eine Kinderkrankheit nach der anderen produzieren, wenn sie wie eine Erwachsene der Lagerleitung bürokratische Listen führt und dabei genau weiß, daß sie die Todestransporte mitorganisiert.
Lesen kann man dieses Grauen und diese Grausamkeiten von Menschen an Menschen überhaupt nur deshalb, weil es Margot Kleinberger gelingt, ohne Wehleidigkeit und ohne rührselig oder geschwätzig zu werden, mit einer Verbalisierung kindlicher und jugendlicher Empfindungen eine viel stärkere Realität zu schaffen und damit Betroffenheit ihrer Leser, als es eine auf die Tränendrüsen drückende Formulierung gekonnt hätte. Ihre Nüchternheit und ihr Weglassen der moralischen Anklage ist die stärkste Waffe die sie schmieden konnte, um auch dem letzten Deutschen den Judenmord als das größte Verbrechen seines Volkes, zu dem ja Juden gehörten und gehören, vor Augen zu führen.
Nahe geht einem dann eine Aussage, der ihr weiteres Leben lang Deutschland aufbauenden Autorin, wenn sie schreibt: „Ich jedoch war mein ganzes Leben einsam, alle gleichaltrigen Freunde wurden ermordet. Ich wohne, lebe und arbeite in diesem schönen Land, aber – und dies sei mir verziehen – ich habe mich hier nie wieder wie zuhause gefühlt.“(185) Diese Empfindung aber teilt Margot Kleinberger mit vielen Deutschen, die die Verbrechen der Nazis, an denen sich so viele Deutsche beteiligten, sich weder erklären, noch verstehen, noch verzeihen können.