Entspannender Abend: Kein Warten auf Godot, aber musikalischer Abgesang auf das Abendland – Christoph Marthalers „Riesenbutzbach. Eine Dauerkolonie“ bei den Wiener Festwochen als Eigenproduktion

Damit wir uns richtig verstehen. Das ist hier – wie das Marthaler Stück – keine Satire, sondern ernstgemeint. Denn aus uns spricht nach diesem Abend eine eindrückliche Erfahrung, wie sehr Theater nicht nur in unsere Hirne und Herzen fährt, sondern auch in unsere Glieder. Angespannt mußte man als Zuschauer auch nicht sein, denn das Ersatzleben unten auf der Bühne hatte mit einem selber ja nichts zu tun. Nach einer Stunde fragte der Nachbar: „Um welches Stück geht es hier eigentlich?“ Was hätte ich antworten sollen? Das Stück selbst kam dann im letzten Drittel Es handelt von den Folgen des Turbokapitalismus auf die Menschen, vor allem auf die Kleinen und Gebeutelten, die nun angesichts der Krise die letzten schäbigen Stellen auch noch verlieren und in einem Niemandsland von Hoffnungslosigkeit mal isoliert ihren Aufstand wagen, manchmal gemeinsam Hoffnung schöpfen oder sich ebenfalls gemeinsam still und singend ergeben. Dazu noch mehr.

Das Besondere an diesem Stück, das Marthaler „Projekt“ nennt, ist die Absage an das klassische Handlungs- und Sprechtheater und eine Zuwendung zu kreatürlichem Verhalten auf der Bühne, was sowohl die Bewegungsabläufe – die Menschen fallen, heben ihre Beine, kotzen, lümmeln, gehen ständig – angeht, wie auch ihre Körperhüllen – sie variieren ihre Kleider, ziehen sich unaufhörlich um und tragen diese Hüllen mit absurden Bewegungen und vollziehen mit ihnen eigentümlichen Handlungen. Das Kreatürliche bezieht sich aber in besonderer Weise auf die Stimmen der Mitwirkenden und hier ihre Gesangsstimmen. Die einlullenden Weisen und die entspannende Weise, wie hier im leise raunenden Chorgesang die wunderbaren Töne abendländischer Musik geboten werden – von Monteverdi über Bach und Beethoven zu Mahler, auch Eric Satie ist dabei, aber auch Wiener Bänkelsang und Lili Marleen -, diese Weisen haben eine unglaubliche Suggestion und fahren direkt in die Glieder im Abgesang auf das Abendland sozusagen.

Nicht vorzustellen, dieser Abend ohne diese Stimmen, dessen prächtigste hinten hinter Glas im Kontrollraum sitzt. Er ist der Führer, nicht nur beim Chor. Und woanders würde man diese Art des Singens kitschig und süßlich nennen, hier nehmen die Gemeinschaftsgesänge aber die psychotherapeutische Wirkung einer Schmerzlinderung und allgemeinen Sehnsuchtsklage an. Und beim nicht endenden Schlußgesang, als noch elf Schauspieler in der einen Garage singen, und als der Chef diese schließt, der Gesang immer leiser wird, aber nicht aufhört, da entsteht plötzlich beim Publikum der einzige Moment der Irritation an diesem Abend, das halten sie nicht aus diese Ungewißheit, ob das ewig so weitergeht, immer leiser wird, aber sich auch ewig wiederholt oder ob endlich Schluß ist, den sie mit Beifallsklatschen herbeiführen wollen, was den Leisegesang nicht vom Weitersingen abhält, bis das Bühnenlicht ausgeht, das im Zuschauerraum an und die Musik vorbei ist und endlich heftig geklatscht werden darf.

Im letzten Drittel und im Programmheft enthüllt sich dann inhaltlich der sozialkritische Ansatz dieses Projektes, von dem wir annehmen, Christoph Marthaler hat es zusammen mit Anna Viebrock, die kongenial eine Bühnenwerkstatt als menschliches Laboratorium hingestellt hat, deshalb so genannt, weil einerseits die Zuschauerreaktionen in das Stück eingehen sollen und sich ebenfalls die Mitwirkenden in ihren Rollen weiterentwickeln oder umorientieren können. Der Rollen in dieser Dauerkolonie der arbeitslos Übriggebliebenen sind viele. Da gibt es einen verirrten Franzosen, der nur französisch parliert, der der Sohn der nicht Französisch sprechenden Vergangenheitssucherin ist. Die Nagelstudioinhaberin sucht wie alle einen „kleinen Kredit bei der großen Bank“ des Sparkassenangestellten, der kein Geld hat, eine zukünftige Führungskraft bläst Trompete, die Glückssucherin geht leer aus und der Gesangskontrolleur ist der Kapo dieser Gruppe oder auch Arbeitslosentruppe.

Die fünfzehn Mitwirkenden sind in ihrem Zusammenspiel und in ihren Arien so passend und treffend und außergewöhnlich besetzt, daß wir hier die Ensembleleistung in den Himmel loben wollen, allein diesen Menschen zuzuschauen lohnt den Abend. Den – wie gesagt -entspannenden Abend. Die Bühne der Anna Viebrock stellt sich als ein Auffanglager da für Gestrandete, seien es Menschen oder Möbel. Die Möbel aber können vom Chef noch verkauft werden und entleeren nach und nach die Bühne. Die Menschen bleiben in ihren Garagen hocken. Hier sind alle schon am Ende. Hier wartet keine auf Godot. Aber jeder, daß es nicht noch schlimmer komme.

Wie gesagt: Dieser Abend war keine Sekunde langweilig, man hat große Körper- und Gesangskunst erlebt und sich richtig entspannt, aber es hat – wie es die Werbung beim Zahnarzt suggeriert –, heute nicht wehgetan.

P.S. Der Titel „Riesenbutzbach läßt einerseits an Butzenscheiben denken und hat gleich die Gefühlsqualitäten, die auch Namen wie Hintertupfingen hervorrufen. Aber dieser Name hat gleich mehrfach Referenzen. Thomas Bernhard hat ihn im „Theatermacher“ verulkt, indem der den Schauspieldirektor sagen läßt: „Utzbach wie Butzbach“, was im Stück Synonym für Ende aller Hoffnungen steht. Bernhard hatte das Ortsschild von „Butzbach“ in der Wetterau, der Kornkammer Hessens, gelesen und sich darüber kringelig gelacht. Butzbach ist ein ganz solider Ort, der sicherlich weniger Arbeitslose hat als die weltweiten Großstädte.

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Vorführung: nur noch am 21. Mai 2009.

Weitere Aufführungen bei den Festivals von Neapel, Athen, Avignon, Warschau, Tokio und am 4. und 5. Dezember 2009 im Theater Chur.

Reiseliteratur:

Felix Czeike, Wien, DuMont Kunstreiseführer, 2005
Baedecker Allianz Reiseführer Wien, o.J.
Lonely Planet. Wien. Deutsche Ausgabe 2007
Walter M. Weiss, Wien, DuMont Reisetaschenbuch, 2007
Marco Polo, Wien 2006
Marco Polo, Wien, Reise-Hörbuch

Tipp:

Gute Dienste leistete uns erneut das kleinen Städte-Notizbuch „Wien“ von Moleskine, das wir schon für den früheren Besuch nutzten und wo wir jetzt sofort die selbst notierten Adressen, Telefonnummern und Hinweise finden, die für uns in Wien wichtig wurden. Auch die Stadtpläne und U- und S-Bahnübersichten führen– wenn man sie benutzt – an den richtigen Ort. In der hinteren Klappe verstauen wir Kärtchen und Fahrscheine, von denen wir das letzte Mal schrieben: „ die nun nicht mehr verloren(gehen) und die wichtigsten Ereignisse hat man auch schnell aufgeschrieben, so daß das Büchelchen beides schafft: Festhalten dessen, was war und gut aufbereitete Adressen- und Übersichtsliste für den nächsten Wienaufenthalt.“ Stimmt.

Anreise:

Viele Wege führen nach Wien. Wir schafften es auf die Schnelle mit Air Berlin, haben aber auch schon gute Erfahrungen mit den Nachtzügen gemacht; auch tagsüber gibt es nun häufigere und schnellere Bahnverbindungen aus der Bundesrepublik nach Wien.

Aufenthalt:

Betten finden Sie überall, obwohl man glaubt, ganz Italien besuche derzeit Wien! Überall sind sie auf Italienisch zu hören, die meist sehr jungen und ungeheuer kulturinteressierten Wienbesucher. Wir kamen perfekt unter in zweien der drei Hiltons in Wien). Sinnvoll ist es, sich die Wien-Karte zuzulegen mitsamt dem Kuponheft, das auch noch ein kleines Übersichtsheft über die Museen und sonstige Möglichkeiten zur Besichtigung in Wien ist, die Sie dann verbilligt wahrnehmen können. Die Touristen-Information finden Sie im 1. Bezirk, Albertinaplatz/Ecke Maysedergasse.

Mit freundlicher Unterstützung von Air Berlin, dem Wien Tourismus, der Wiener Festwochen und diverser Museen und den Hilton Hotels Wien.

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