London, Vereinigtes Königreich (Weltexpress). Vergangene Woche habe ich in London verbracht – und es war ein einziger Höhenflug. Mein „Gentlemen’s Club“, der legendäre Reform Club an der Pall Mall, im Londoner „Clubland“ hat nach monatelanger, Covid-bedingter Schließung, endlich seine Pforten wieder geöffnet. Und so konnte ich erstmals wieder in den historischen Gästezimmern übernachten, um von hier aus mit neuem Elan in das aus dem Covid-Dornröschenschlaf erwachte Londoner Kulturleben einzutauchen.
Mein erster Weg führte mich in Londons renommiertesten Konzertsaal – klein aber fein – die Wigmore Hall. 1901 von der Berliner Bechstein-Klavierfabrik als „Bechstein Hall“ im Jugendstil mit zahlreichen Kunstwerken aus dieser Epoche erbaut gilt die (auf Kammermusik und Lieder spezialisierte) Wigmore Hall mit ihrer außergewöhnlichen Akustik als einer der besten Konzertsäle weltweit. Am letzten Montagabend (17.5.2021) fand hier – nach 14monatiger Schließung wahrhaft ein historisches, von der Londoner Musikwelt mit Sehnsucht erwartetes Ereignis – wieder ein erstes Konzert statt. Und es war bereits ein absoluter Höhepunkt.
Eine – wegen der Covid-Sicherheitsbeschränkungen – limitierte Zahl von Zuschauern hatte das Privileg, Steven Isserlis, einen der weltbesten Cellisten, zu hören. Das Publikum – sichtlich eine erlesene Versammlung von Musikkennern der älteren Generation, unprätentiös in Kleidung und „understated“ im Auftreten – dankte es mit enthusiastischem Applaus
Der britische Musiker, dessen Familien-Stammbaum illustre Querverbindungen zu Felix Mendelssohn, zu Karl Marx und Helena Rubinstein aufweist, wurde von der Queen als Commander of the British Empire (CBE) geadelt. Gemeinsam mit der außerordentlich virtuosen französischen Violinistin Irène Duval und der energetischen Pianistin Mishka Rushdie intonierte Isserlis Beethovens einzigartige Cello-Sonate No.2 in G-Moll Opus 5, minimalistisch angelegte Miniaturen des zeitgenössischen ungarischen Komponisten und Schuberts unvergleichlich schönes Klaviertrio in E-Moll D929. Vor allem dieses Werk, vermochte bei mir als „Wiener mütterlicherseits“ tiefe Emotionen auszulösen. Intoniert vom phänomenalen Cellisten Isserlis, der in seiner Interpretation nicht nur metaphorisch sondern physisch von seinem Sitz abhob und tänzerisch-schwerelos zu schweben begann, wurde Schuberts Klaviertrio zu einem Erlebnis, das noch lange nachhallte, als sich die Tore der Wigmore Hall längst geschlossen hatten.
Aber schon der nächste Nachmittag (18.5.2021) wartete mit einem weiteren musikalischen Höhenflug auf: Das London Symphony Orchestra (LSO) unter der Stabführung von Sir Simon Rattle, in der Barbican-Konzerthalle mit ihrer ebenfalls herausragenden Akustik. Der aus Liverpool stammende Rattle, 2002 bis 2018 Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, seit 2017 Chef des Weltklasse-London Symphony Orchestra gilt als bester Dirigent Großbritanniens – „das Gesicht der klassischen Musik in unseren Tagen“, wie Fachzeitschriften schreiben. Sie attestieren Rattle, das „kein lebender Musiker mehr getan hat, um den musikalischen Geschmack der Briten zu formen, als Rattle“. Man wird ihm, einem engagierten Brexit-Gegner (der sich jetzt auch noch um die deutsche Staatsbürgerschaft bewirbt), in englischen Musikzirkeln mehr als nur eine Träne nachweinen, wenn er 2023 die britischen Inseln unwiderruflich verlässt, um die Leitung des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks zu übernehmen. Glückliche Bayern, die diesen Weltstar kriegen! Doch für die Briten war es, um erneut Fachzeitschriften zu zitieren, „ein Schock“, dass er das LSO verlassen wird.
Vor diesem denkwürdigen Nachmittagskonzert, dem ersten live-Konzert in England seit 14 Monaten, wandte sich Rattle an das freudig erregte Publikum in der Barbican-Hall. Noch nie in seiner Laufbahn habe er vor einem Konzert das Wort an das Publikum gerichtet, sagte Rattle, doch die historische Stunde erlaube ihm diese Ausnahme: Er sei, nach unzähligen „Streaming“-Konzerten, geradezu überwältigt, einem real existierenden Publikum gegenüberzustehen – und echten Applaus zu vernehmen. Und dieses „reale“ Publikum dankte es ihm denn auch mit lange anhaltendem, ganz unenglisch überschwänglich dargebrachtem Beifall. Er sei von den LSO-Musikern aufgefordert worden, für dieses außerordentliche Konzert „heitere“ Stücke auszuwählen – deshalb habe er sich für Dvoraks „Slawische Tänze“ entschieden. Doch zuvor wolle er dem entwöhnten Publikum wieder die Instrumente eines „real exisiterenden“ Orchesters vor Augen führen. Und welches Stück eigne sich dazu besser als Benjamin Britten’s brillant-originelles „The Young Person’s Guide to the Orchestra“ – zumal es ursprünglich für das LSO (unter der Stabführung von Malcolm Sargent) komponiert wurde. Britten hatte damals, unmittelbar nach Kriegsende 1945, der „Erbauung und Unterhaltung“ von vier Kindern gewidmet. Das Stück wurde denn auch (neben Saint-Saens „Karnival der Tiere“ und Prokofjews „Peter und der Wolf“) eines der populärsten Stücke in der Musik-Pädagogik.
Aber auch Erwachsenen macht dieses Musikstück großen Spaß: basierend auf der wunderschönen „Abdelazer Suite“ von Henry Purcell führt es uns die einzelnen Abteilungen und Instrumente eines Symphonieorchesters gewissermassen dreidimensional-plastisch vor Augen. Der auswendig, ohne Partitur dirigierende Rattle vermochte es, dieses klassische Stück faszinierend zum Leben zu erwecken – und es war der denkbar beste Einstieg in dieses neue Kapitel des wieder erwachten Londoner Kulturlebens. Kristallklar die Instrumentengruppen, präzis die Tempi, überwältigend der Klang des einzigartigen Original-Orchesters für dieses Stück.
Nach einem eher verhaltenen Intermezzo mit Gabriel Faurés morbid-gespenstischer Pelléas-und-Mélisande-Suite Dvoraks Slawische Tänze, interpretiert voll überschäumendem Leben, tänzerisch und zugleich melancholisch. Tatsächlich macht die Aussicht auf einen möglichen neuen Lockdown melancholisch – denn bereits gilt in Österreich erneut ein Landeverbot für Flugzeuge aus Großbritannien – wegen der neuen „indischen“ Covid-Variante“. Und es könnte durchaus sein, dass diese bereits wieder einen neuen Lockdown und damit den Abschluss des so hoffnungsvoll wieder begonnen Londoner Kulturlebens nach sich zieht. Doch zuvor gab es in der Royal Opera Covent Garden eine „unter strikter Einhaltung der Covid-Restriktionen“ entstandene (und wenig ansprechende) Neuinszenierung von Mozarts „La clemenza di Tito“ Und, als Kontrast, teils unter freiem Himmel und feuchtkalter Witterung im originalgetreu nachgebauten „Globe Theatre“ Shakespeares Midsummer Night’s Dream in einer radikal unkonventionellen, überschäumend temperamentvollen und farbenprächtigen Produktion, die an den karibisch inspirierten Londoner „Notting Hill Carneval“ erinnnerte.
Anmerkung:
Vorstehender Artikel von Dr. Charles E. Ritterband wurde in „Klassik Begeistert“ im Mai 2021 erstveröffentlicht.