Als dessen Ergebnis entstand „Seymour oder ich bin nur aus Versehen hier“, im Januar 2012 vom Schauspiel Hannover uraufgeführt. Ebenfalls im Januar 2012 kam Anne Leppers zweites Stück „Käthe Hermann“ am Theater Bielefeld zur Uraufführung. Beide Stücke wurden mit großem Erfolg bei den diesjährigen Autorentheatertagen vorgestellt.
„Seymour oder ich bin nur aus Versehen hier“ ist eine traurige Komödie über die Ängste vor dem Abgeschoben- und Ersetztwerden. In der Schneelandschaft oberhalb der Baumgrenze befindet sich Dr. Bärfuss’ Sanatorium für übergewichtige Kinder. Dort erscheint Leo, der, wie Hans Castorp in Thomas Manns „Zauberberg“, glaubt, er werde nur für kurze Zeit im Sanatorium bleiben.
Die anderen Kinder beobachten Leos mühsamen Aufstieg und machen keine Anstalten, ihm zu helfen. Nachdem es Leo endlich gelungen ist, sich samt Koffer auf die hohe Plattform hinaufzuwinden, auf der er von seinen LeidensgenossInnen erwartet wird, weisen die ihn in die Regeln des Sanatoriums ein.
Aufsichtspersonen sind nicht anwesend. Der selbstbewusste Leo (Philippe Goos) will sofort mit dem Anstaltsleiter sprechen und muss erfahren, dass Doktor Bärfuss erst am Tag der Abrechnung erscheinen wird. Dann wird er Gericht halten, und die Kinder werden erfahren, ob sie durch die Kur zu schlanken Menschen geworden sind, die von der Gesellschaft draußen akzeptiert werden können, oder ob sie als Dicke Außenseiter und Versager bleiben. Bis dahin dürfen sie nicht in den Spiegel sehen und müssen das Programm absolvieren, das aus Liege- und Sonnenkuren am Tag und nächtlichen Fressorgien mit Schokoladenkuchen besteht.
Außer den Kindern Robert (Sandro Tajouri), Heidi (Emma Rönnebeck), Max (Martin Vischer) und Oskar (Daniel Breitfelder) gibt es noch Sebastian mit dem goldenen Arm (Wesley D’Alessandro), der meistens reglos auf einer Liege ausgestreckt ist und nur manchmal tanzend zum Leben erwacht. Die Kinder verehren Sebastian, weil er dünn ist, für sie ist er ein Heilsbringer, eine Jesusfigur.
Leo will sofort wieder nach Hause, und weil seine Mutter ihm Kleingeld zum Telefonieren mitgegeben hat, kann er sie anrufen. Auf seine Bitte, umgehend abgeholt zu werden, bekommt er allerdings zu hören, er möge sich noch gedulden. So etwas kennen die anderen Kinder. Auch ihnen wurde versprochen, dass sie nicht lange im Sanatorium bleiben müssten.
Obwohl Leo sich nicht entmutigen lässt, ist er offenbar verunsichert. Bei ihm zu Hause ist nämlich sein dünner, englischer Cousin Seymour eingezogen, ein perfekter Junge, der nun in Leos Zimmer wohnt. Es sei ja nur vernünftig, sein Zimmer während seiner Abwesenheit nicht leer stehen zu lassen, erklärt Leo, aber während er wiederholt, was seine Eltern ihm gesagt haben, kommen ihm Zweifel, die sich verstärken, als seine Mutter ihm kein weiteres Telefongeld schickt.
Regisseurin Claudia Bauer lässt die SchauspielerInnen, alle unförmig in ihren Fat-Suits, immer wieder rhythmische Gymnastik ausführen, die das Vergehen der Zeit erkennbar macht. Die Bewegungen sind immer die gleichen, während Mimik und Körperhaltungen der DarstellerInnen sich verändern. Aus naiven Kindern werden kritische, pubertierende Jugendliche.
Anne Lepper hat in ihrem Stück etliche Zitate aus den Werken anderer Autoren verwendet, Verweise auf erlebte Lesenwelten, mit denen die Charaktere der handelnden Personen bereichert und dem Publikum vertrauter werden.
Namensgeber für den Anstaltsleiter war, mit seinem Einverständnis, der Dramatiker Lukas Bärfuss, Anne Leppers Mentor während ihres Studiums des literarischen Schreibens an der Hochschule der Künste Bern. Lukas Bärfuss’ neues Stück „Malaga“ war, als Gastspiel des Nationaltheaters Mannheim, ebenfalls bei den Autorentheatertagen 2012 zu erleben.
In Anne Leppers Stück erscheint Doktor Bärfuss nicht. Die Kinder haben vergeblich auf die wegweisende Autorität gehofft. Sebastian stirbt, sein bewundertes Dünnsein war eine Krankheit, die zum Tod führte.
Auch ohne in den Spiegel zu sehen, bemerken die Kinder, dass sie nicht abgenommen haben. Ihre Körper verändern sich jedoch und damit auch ihre vorher einfachen Beziehungen zu einander. Heidi will wissen, ob sie eine Frau ist oder eher ein Mann. Oskar verliebt sich in Max. Nachdem es zu Zärtlichkeiten zwischen den Beiden gekommen ist, zieht Max sich angewidert zurück, wirft Oskar vor, dass er dick ist und begeht Selbstmord.
Am Ende ruft Leo die Bundeskanzlerin an und erfährt, dass alle Kinder im Sanatorium zu Hause schon längst durch dünne, perfekte Cousins ersetzt worden sind.
Mit Anne Leppers Stück „Käthe Hermann“ war das Theater Bielefeld auch zu den diesjährigen Mühlheimer Theatertagen eingeladen, wo Peter Handke mit „Immer noch Sturm“ den Dramatikerpreis gewann.
Käthe Hermann, die Titelheldin, ist eine alte Frau Wenn ihre Geschichten stimmen, war ihr Mann während des Zweiten Weltkriegs an der Ermordung von Juden beteiligt. Sie selbst hat einmal einem jüdischen Mädchen heimlich ein Stück Brot gegeben. Eigentlich erzählt Käthe Hermann keine Geschichten. Sie liefert Stichworte, aus denen sich Zusammenhänge erahnen lassen. Wenn sie sich ihre Zukunft ausmalt, gerät sie ins Schwärmen, denn Käthe Hermann ist davon überzeugt, dass ihr große Zeiten bevorstehen.
Mit Käthe Hermann hat Anne Lepper eine wundervolle Rolle für eine ältere Schauspielerin geschaffen, und Therese Berger erweist sich als ideale Besetzung. Käthe ist eine dominante Frau, die in ihrer eigenen, realitätsfernen Welt lebt. Sie war Tänzerin und glaubt, sie könne ihre, durch die Geburten ihrer beiden Kinder abgebrochene, Karriere nun glanzvoll fortsetzen.
Vor der geplanten Rückkehr ins Berufsleben hat Käthe ihr Haus renoviert. Die Zimmer sind wieder schön und alles sieht aus wie früher. Glücklicherweise war genügend Geld für die Renovierung vorhanden, auch wenn das für eine Umsiedlung gezahlt worden war. Käthes Haus soll nämlich abgerissen werden, um dem Tagebau Platz zu machen. Alle Nachbarn sind bereits weggezogen, aber Käthe Hermann ignoriert die behördlichen Anweisungen.
Auch Tochter Irmi (Hannah von Peinen) kann Käthe nicht dazu bewegen, die bevorstehenden Veränderungen zur Kenntnis zu nehmen, die Irmi herbeisehnt, denn sie und ihr gelähmter Bruder Martin (John Wesley Zielmann) wünschen sich, aus der Familie auszubrechen, der Falle, in der sie von der Mutter gefangen gehalten werden.
Die Kinder sind längst erwachsen, aber Mutter Käthe versteht es, ihnen mit Schmeicheleien und subtilen Gemeinheiten jeden Anflug von Selbstwertgefühl zu zerstören. Martin, der seine Beine nicht bewegen kann, steht einmal aufrecht und sackt sofort in sich zusammen, als seine Mutter ihn anspricht.
Ebenso wie Käthe nehmen auch ihre Kinder Zuflucht zu Fantasien. Martin, der inzestuöse Gefühle für seine Schwester hegt, will Rocco genannt werden und träumt von einer Wunderheilung. Irmi stellt sich die Heimkehr ihres Sohnes vor, der inzwischen ein erwachsener Mann sein müsste. Käthe und Martin behaupten allerdings, dass dieser Sohn schon lange tot ist, als Baby ausgesetzt und vor der Kirchentür erfroren oder als kleiner Junge bei einem Sportunfall ums Leben gekommen.
Die Bühne, von Okarina Peter und Timo Dentler, die auch die Kostüme kreiert haben, gestaltet, ist mit Plastikplane ausgeschlagen wie eine Baustelle. Darauf steht ein Holzhaus von der Größe einer Hundehütte. An den Wänden sind Ballettstangen angebracht für Käthes Training. Therese Berger, sehr elegant in einem langen dunkelgrünen Samtkleid, deutet Positionen und Schritte nur an und präsentiert sich allein durch ihre Haltung sehr überzeugend als professionelle Tänzerin. Der eiserne Wille und die strenge Disziplin, mit denen sie sich dem Tanz widmet, bestimmen ihr ganzes Leben und auch ihre Herrschaft über ihre Kinder.
Im Schatten dieser Mutter haben Irmi und Martin keine Chance gehabt, sich zu selbständigen Menschen zu entwickeln. Irmi gelingt die Befreiung schließlich durch Selbstmord. Für Käthe wächst die Restfamilie durch diesen Vorfall noch enger und dauerhafter zusammen.
Das Stück ist ebenso tragisch wie skurril und besticht vor allem durch Anne Leppers musikalische Sprache, die durch das hervorragende Schauspielensemble unter der feinsinnigen Regie von Daniela Kranz auf faszinierende Weise zum Klingen gebracht wird.