Das Ungewöhnliche und Beeindruckende im Ausstellungsparcour ist die Filmlandschaft, die man eingerichtet und inszeniert hat. Eine besondere Rolle spielt dabei „Das Cabinet des Doktor Caligari“ von 1919/1920 unter der Regie von Robert Wiene, wo Conrad Veith den verführten Verführer, den Gequälten und Mörder gibt, mit schwarz umrandeten Augen und schwarzer Kluft ein ästhetisches Vorbild sowohl für die Existentialisten wie viel später für die Subkultur ’Gothic`. Höhepunkt ist dann die Filminstallation, wo gleichzeitig auf zwei Ebenen und vorne und hinten sowie rechts und links insgesamt sechs Filmeausschnitte sich wiederholen, wobei ein un dieselbe Filmmusik gleich für alle passend scheint. Aber auch der „Golem“, 1920 von Paul Wegener mit ihm selbst in der Hauptrolle, hat, obwohl er im Prag des 16. Jahrhunderts spielt, viel mit den Sehnsüchten zu tun, Menschen, hier einen künstlichen, beeinflussen zu können.
Auf das Zwitterhafte, das Anrüchige, das die Normen Außerkraftsetzende, die Sexualität Benutzende wie auch Kokain als Aufputschmittel, um mit allen Fasern wach und aufnahmefähig zu sein, diese Seite des Expressionismus als dunkle Seite wird nicht ausgespart, sondern ist Teil des Gesamten, in dem es immer auch um die im Menschen schlummernden unbewußten Triebe und Ängste geht. So gibt es mit dem Lustmörder ein neues Personal auf Bild und Bühne und die Vergnügungssucht lebt sich aus in den Bars, Kabaretts und Tanzvorführungen, das Ausgelassensein und die üblichen Süchte sind Bestandteile des täglichen Lebens, der Dichtung und Motive der Kunst.
Zu sprechen wäre auch von den Ambivalenzen. So gilt die Beschränkung auf die Unfarben Schwarz und Weiß genauso, wie es die kitschig bunt zu nennenden, oft aufdringlich verzierten Muster von Kissen, Wandbemalungen, Kleidern und ebensolche Bilder gibt. Licht und Schatten ist eine gute Metapher für den Expressionismus, nicht nur, weil er diese nutzte, sondern weil sie ihm selbst immanent ist. Genutzt hat Lyonel Feininger eine starke Lichtquelle, vor die er seine Häuser als Puppenhäuser stellte und sie als riesengroße, ja Hochhäuser und dann noch extrem verzerrt auf die Wand als Schatten projiziert. Verfolgt man die Lichtbewegung in der Ebene, so sieht man auf einmal seine Kirchen und Stadtansichten seiner Heimat rund um Halle. Von daher ist dies eine Ausstellung, in der man auch über die Methoden des Expressionismus etwas lernt.
Sehr richtig, daß der Architektur breiter Raum eingeräumt wurde. Vom Kristall als dem hochwertigen und gleichzeitig durchscheinenden Element geht einer Kraftquelle aus, die sich erst einmal im Glashaus von Bruno Taut, gezeigt auf der Werkbund-Ausstellung in Köln 1914 entlädt, in der Gouache von Wenzel Hablik – der überhaupt als allseitiger Künstler hier eine große Rolle spielt -, die vom Kristallbau in Berglandschaft spricht und damit miteinschließt, was weitere Architekten wie Hans Poelzig vom organischen Bauen erwarteten: eine Übereinstimmung von Formen und Material mit der Erde selbst, wie es im fernen Barcelona beispielsweise auch, wenngleich anders Gaudí¬ schuf. Der Einsteinturm von Erich Mendelsohn, das Chile Hause in Hamburg von Willy Dzubas, die Sternkirche von Otto Bartning, die Architekturphantasie von Hans Scharoun und das Hochhaus am Bahnhof Friedrichstraß0e von Ludwig Mies van der rohe sind Vorboten dessen, was in den Fünfziger Jahren wiederaufgenommen wurde, denn all das hier Geschaute war den Nazis ein Gräul.
Dazu gehören auch die Bühnenbilder von Theater, Oper, Film , von denen Ludwig Sievert für „Mörder, Hoffnung der Frauen“ den Raum entwarf, wo sich die Musik des Paul Hindemith des Stückes von Oskar Kokoschka annahm, als Uraufführung in Frankfurt am Main übrigens, dessen Opernhaus damals für die expressionistische Avantgarde zuständig war. In diesen Kontext gehören dann auch die nachgebauten und eingerichteten Räume aus dem Film „Dr. Mabuse der Spieler“ mit Möbeln von Hermann Höger und Fotografien expressionistischer Großbürgerinterieurs der 1920er Jahre.
Kein Wort bisher zu Georg Grosz, zu Anita Berber, Otto Gutfreund, Rudolf Bellings „Dreiklang“, kein Wort zu so vielen, die in dieser Ausstellung dazu beitragen, daß sich ein Gesamtbild des Expressionismus ergibt, das aufweist, wie vielfältig, wie uferlos diese Bewegung war, die sich im deutschsprachigen Raum ausbreitete und in ihrer Geschlossenheit wirklich ein deutsches Phänomen bleibt, von dem in der Welt eigentlich nur die Malerei übrig geblieben ist, in die die Besucher von Tokio bis New York rennen, wenn irgendwo „Deutsche Expressionisten“ angesagt sind. Hoffen wir, daß die Deutschen auch wahrnehmen, was derzeit in Darmstadt zu bestaunen ist: Ein Zeitalter wird besichtigt, womit wir den Titel der Autobiographie von Heinrich Mann aufnehmen.
P.S.: Nicht unerwähnt sollte bleiben, daß diese Ausstellung eine besondere Blüte im Strauß des „Phänomen Expressionismus“ ist, den der Kulturfonds Frankfurt RheinMain für das hiesige Gebiet zum Thema gemacht hatte, weshalb auch – nach der großen Kirchnerschau im Frankfurter Städel – bis zum Jahr 2012 rund 20 Kulturinstitutionen Ausstellungen und Aufführungen zum Expressionismus zeigen, auf die wir noch zu sprechen kommen, und die alle vom Kulturfonds initiiert und finanziell unterstützt worden sind. Herbert Beck, Geschäftsführer des Kulturfonds Frankfurt RheinMain und ehemaliger Direktor des Frankfurter Städel äußert sich mit dem Darmstädter Ergebnis äußerst zufrieden: „Im Rahmen von ’Phänomen Expressionismus` vermittelt die Überblicksschau auf der Mathildenhöhe Darmstadt gattungsübergreifend die durchschlagende Wirkung des Expressionismus. Eindrucksvoll stellt die Ausstellung unter Beweis, wie tiefgreifend die Suche nach neuen Ausdrucksformen für Umbruch und Erneuerung in allen Lebensbereichen steht.“
Ausstellung: vom 24. Oktober bis 13. Februar 2010
Mit einem hochprozentigen Begleitprogramm einschließlich Filmprogramm
Katalog: Gesamtkunstwerk Expressionismus, hrsg. von Ralf Beil und Claudia Dillmann, mit 16 Essays und 31 Quellentexten, Verlag Hatje Cantz, erscheint am 8. November 2010.
Da der Katalog zur Ausstellungseröffnung noch nicht fertig ist, nimmt man um so dankbarer „Kunst zu Hören“ aus dem Verlag HatjeCantz zur Hand, wo eine CD eine akustische Führung zum „Gesamtkunstwerk Expressionismus 1905-1925“ bietet und die 49 Bildbeispiele die Situation herstellen können, die man bei der Direktschau im Museum hat. Wir haben uns an diese gute Idee aus dem Verlag HatjeCantz schon fast als selbstverständlicher Service gewöhnt. Bei dieser Ausstellung aber bemerkt man stärker noch als bei ’reinen` Kunstaustellungen, wie wichtig die verbindenden gesprochenen Worte sind, geht es doch um das gewaltige Unterfangen, die alle Künste umfassende Stilepoche des Expressionismus in eine Ausstellung, einen Katalog und hier eine akustische Führung wie einen Strauß zu binden, der neben der Pracht des Gebindes auch noch die einzelnen Blüten von Kunst, Film, Literatur, Theater, Tanz und Architektur sichtbar und riechbar macht. Und dieses gelingt!
Diesmal gibt es auch eine DVD zur Ausstellung, was wegen der Filmausschnitte sinnvoll ist.
Internet: www.mathildenhoehe.eu