Ein Wahnwitz – Versuch einer ketzerischen Deutung der christlichen Schöpfungsgeschichte, der Kreuzigung und der Erlösung – die Tragik des Kindes als Erlöser

Kreuze in Bayern.
Jede Menge Kreuze in Bayern, draußen und drinnen. Quelle: Pixabay

Frankfurt am Main, Deutschland (Weltexpress). Ein Patient erzählte mir grinsend, dass Jesus Christus am Kreuz aus lauter Wut, Empörung und Rache gegen die Obrigkeit, die ihn ans Kreuz nagelte und demütigte, wieder von den Toten auferstand und diese weiterhin zur Vergeltung mit ihm zu rechnen hat. Grinsend, wie er selbst sagte, das er dadurch der christlichen Kirche und deren religiösem Glauben und Überzeugung eins auswischte, die für sich in Anspruch nimmt, die alleinige, einzige und richtige Wahrheit zu vertreten.

Anlässlich einer Beerdigung im Verwandtschaftskreis hatte ich zugehört, dass der Pfarrer von Jesus Christus predigte “ ich bin der Weg und die Wahrheit“. Anschließend sagte ich vor der Tür zu den Umstehenden, „wenn einer von sich selbst behauptet, er sei der Weg und die Wahrheit, dann wird er entweder als Gott verehrt oder gekreuzigt. Ich bin für die Kreuzigung.“ Mir war nämlich bewusst, wie viel Leid die Verkündung der einzigen Wahrheit in Streitigkeiten, Glaubens- und Kreuzkriegen und in Verfolgungen über die Menschheit brachte. Als Gott wird er verehrt, da er den einzigen und richtigen Weg aufzeigt, nach dem das arme Menschenkind, gedemütigt, verachtet und mit Schuld beladen, so sehr lechzt, und gekreuzigt wird er wegen des unendlichen Leides, das er herbei führt. Da habe ich aus religiöser Sicht ketzerisch ein Tabu durchbrochen.

Das Wort Wahnwitz setzt sich aus zwei Wörtern zusammen, der Wahn, etwas anderes zu glauben als die Allgemeinheit, und das Wort Witz, dass über den Wahn wie über einen Witz gelächelt und gelacht wird. Man kann in einem traumatischen Geschehen über sich selbst und über andere lachen. Über sich selbst ist ein Versuch, Abstand zu einem selbst zu gewinnen, um nicht mehr dermaßen zu leiden und die eigene Selbstachtung zu erhalten. Bei der Ironie und dem Sarkasmus ist man in den kränkenden Inhalten immer noch involviert, glaubt noch an diese Inhalte und ist sozusagen auf Abstandssuche. Inwieweit dies ein intersubjektives oder Interpersonelles Geschehen ist, zeigt die Kränkung des anderen an. Nämlich es handelt sich immer um herabsetzende und entwertende traumatisierende Inhalte. Viele Menschen lachen und grinsen bei an sich für sie üblen und herabsetzenden Inhalten. Beim humorvollen Lachen ist diese Abstandssuche gelungen. Die Sache oder die Person, über die gelacht wird, ist nicht mehr traumatisierend. Da habe ich Abstand. Insofern ist der Humor beiderseits eine gelungene, befreiende Sache.

So viele Menschen es gibt, so viele Meinungen und subjektive Wirklichkeiten aus der jeweiligen Perspektive gibt es. Allerdings gibt es in Religionsgemeinschaften, Bevölkerungsgruppen und in Familien etwas, wo diese Gruppe an bestimmte intersubjektive Inhalte und Wahrheiten glaubt, an einer Gemeinsamkeit des Glaubens und der Überzeugungen. Ein Wahn ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Mitglied dieser Gemeinschaft etwas anderes glaubt als diese Allgemeinheit. Und oft genug glaubt diese Gruppe an die objektive und absolute Wahrheit. Wenn die Mehrheit das sagt und daran glaubt, muss es ja stimmen. So bestärken sich Meinungen als absolute Wahrheiten gegenseitig.

Die Wut verleiht Flügel. Dass es dadurch sogar wider die Natur und den Naturgesetzen möglich ist, wieder von den Toten aufzuerstehen. Dies halte ich natürlich umgekehrt für einen Mythos, denn ich glaube an die Naturgesetze, ein Toter ist tot und nicht wieder aufweckbar. Aber dies symbolisiert in meinen Augen wiederum traumatische Tatsachen, die ich zu deuten oder als Ausdruck eines traumatischen Geschehens zu übersetzen trachte.

Ich halte Mythen und Märchen, auch religiöse Mythen, an die vielfach seit Jahrhunderten und Jahrtausenden traditionell geglaubt wird, für Parabeln und Gleichnisse eines traumatischen Geschehens. Wie überhaupt bei Traumata werden sie infolge der Wucht und Schwere dieser Ereignisse, die man nicht verarbeiten kann, aber die sich in den Neuronen im Gehirn und Verzweigungen und Verästelungen im Netzwerk des Gehirns festsetzen, verdrängt und verleugnet, sozusagen als Selbstverständlichkeiten im Dunkeln über Generationen hinweg gehalten, und hat gerade dadurch gravierende Folgen. Diese Traumata werden in Symbolen, Fabeln, Märchen und Mythen wach gehalten und sich in mythischer Form daran erinnert mit dem Ziel, sie einerseits festzuhalten und andererseits ihnen ihre Bedrohlichkeit zu nehmen. Ich möchte zeigen, wie der Wahn, Traum und sogar Krankheitssymptome ebenfalls dieses Ziel verfolgen.

Wie die Untaten der Vorfahren sozusagen in einem Schlossgespenst, das herumgeistert, wieder auftauchen, taucht das traumatisierte Geschehen überall wieder auf. Zum einen im Wahn, der, wenn man sich Mühe gibt und zu dem Unbewussten des Patienten Zugang oder Verständnis hat, ohne weiteres auf ein traumatisches Geschehen hinweist. Dazu Beispiele: Ich hatte einmal einen Patienten, der im Wahn zuhause das Dach abgedeckt hatte und in die Psychiatrie eingewiesen wurde. Als ich ihn fragte, „warum er das gemacht habe?“, sagte er „um den Mief von der Generationen herauszulassen!“ Das weist auf die transgenerationelle traumatische Perspektive hin. Ein anderer Patient war nackt auf einem Autobahnparkplatz aufgelesen, dann in die Psychiatrie eingewiesen worden. Er hatte sich sozusagen im Urzustand als Nackter präsentiert, um so noch einmal neu anzufangen und Hilfe zu erlangen. Wiederum ein anderer Patient sah über dem Boden überall Ratten und Mäuse herumlaufen und fühlte sich von diesen bedroht. Für ihn waren die Menschen Ratten, von denen er sich bedroht fühlte. Für sie war die Symbolik sozusagen real, dass er sie buchstäblich sah und sich dementsprechend verhielt. Ein anderer fühlte sich auf dem Uni Campus von den Blicken des Umfeldes durchbohrt und durchschaut. Er führte sozusagen einen Tanz vor den Blicken anderer auf. Das ist im allgemeinen auch der Hintergrund von Sozialangst, Agoraphobie, die Blicke der anderen, deren Vorwürfe, Verachtung und Entwertungen, und der Klaustrophobie, dass es sozusagen in seinem inneren Weltbild durch Verachtung und Entwertung zu eng wird, und sie dadurch vom sozialen Tod bedroht sind.

Der Traum, in dem gegenwärtige Erlebnisse, das sind häufig Tagesreste, auf dem Boden von früheren oft traumatisierenden Erlebnissen symbolhaft verarbeitet werden, ist ein weiteres Beispiel. Im Albtraum tauchen dann gegenwärtige und frühere Erfahrungen und Erlebnisse wieder in Bildern als Bedrohung und Angst auf.

Auch beim Phantomschmerz, einem Gliederschmerz an einem chirurgisch entfernten und nicht vorhandenen Glied, der nicht durch körperliche Ursachen etwa aktuelle Verletzungen zu erklären ist, weist auf frühere traumatische Ursachen hin, in denen das Glied und dessen Verlust symbolhaft besetzt ist und dadurch schmerzt. Vielleicht ist dies eine Strafe und Wiedergutmachung, die Strafe beinhaltet die Wiedergutmachung für vergangenes Verhalten. Überhaupt halte ich sämtliche nicht organisch erklärbare Schmerzzustände für ein „Schlossgespenst“, z.B. bei der Fibromyalgie, für ein derartiges symbolhaftes Geschehen.

Bei der Epilepsie, dem Morbus sacer, der Heiligen Krankheit, wälzt, schüttelt und krampft sich der Kranke in einem ohnmächtigen Wut- und Verzweiflungsanfall auf dem Boden herum. Die Bezeichnung Heilige Krankheit weist auf die Tatsache hin, dass er als einziger und Stigmatisierter in der Familie zum Sündenbock erklärt wurde für ein Geschehen, an dem mehrere beteiligt waren, für das sich alle Beteiligten eigentlich schämen müssten. Es ist ein neueres Beispiel für die Schuld als Abweisung der Scham, in dem ein einzelner oder einer Gruppe für gemeinsame Untaten aller Beteiligten verantwortlich gemacht wird.

Schon in der christlichen Schöpfungsgeschichte, der Genesis, die ich für ein Ursymbol und den Urmythos des traumatischen menschlichen Werdegangs halte, waren die Motive von Gott im Dunkeln, warum er all diese Gebote und Verbote seinen Nachfahren auferlegte. Die Motive waren nicht wahrgenommen und verleugnet, sozusagen im Dunkeln, aber hatten ursprünglich trotzdem den Zweck, nämlich die Wiederholung und Verhinderung weiterer schrecklicher Ereignisse auf dem Hintergrund früherer Ereignisse zu vermeiden. Die Eltern erzählen ja nicht normalerweise, warum sie das tun. Bei einem Zuwiderhandeln, als Ungehorsam deklariert, führte dies zur Erbsünde, die sich von Generation zu Generation weiter übertrug, entsprechend der transgenerationellen Überlieferung von früheren Erlebnissen. Die Kinder waren und sind also einbezogen in Dinge, für die sie ursprünglich gar nichts konnten und an denen sich trotzdem zugleich schuldig und unschuldig waren und sind, schuldig, weil sie daran glauben und davon überzeugt sind, und entsprechend ihrer Überzeugung aktiv daran arbeiteten, diese zu verhindern. Die Spaltung zwischen Schuld und Unschuld führte zu einem tief sitzenden Zwiespalt. Der Anteil der Schuld erzeugte reuige Sünder, indem sie daran glauben, höchstens Widerstand und Trotz zur Erhaltung der
Selbstbestimmung.

In der christlichen, biblischen Schöpfungsgeschichte ist es natürlich eine Frau, Eva, die Urmutter, die von dem Teufel verführt, den Apfel vom Baum der Erkenntnis pflückt, was Gottgleichheit bedeutet, ein Symbol für die Sexualität. Insofern ist es den Kindern verboten, eigene Erkenntnisse zu haben. Das bedeutet, wie die Eltern zu sein und das Wissen zu haben. Die sexuelle Lust und Begierde, überhaupt die sinnliche Körperlichkeit, sind also das am häufigsten und intensivsten verbotene. Das zeigt sich meines Erachtens in jedem fundamentalistischen Glauben. Der Fundamentalismus hat nach traumatischen Erfahrungen in Mythen und Märchen seine Hochkonjunktur. So erkläre ich mir auch den Sinn von mittelalterlichen Hexenverbrennungen, die Hexe als Symbol für die Mutter, die den Geist und das Gefühl ihres Kindes verhext hat.

Beispielsweise ist im mittleren afrikanischen Gürtel seit Jahrhunderten die sexuelle Beschneidung bzw. Verstümmelung von kleinen Mädchen Brauchtum. Dort werden die inneren und äußeren Labien herausgeschnitten und die Scheide zugenäht, bis die Frau nur noch pinkeln kann. Das ist für diese sehr traumatisch und als Folge angstbesetzt. Zur Vermeidung dieser Ängste dienen Richtlinien, Moral und Anstand werden aufrecht erhalten, um die Töchter heiratsfähig zu machen. Diese sexuelle Beschneidung wird von Frauen und Müttern weitergegeben, ist in den Neuronen und dem Netzwerk des Gehirns tief verankert, während die Männer überaus vorsichtig und mit Einfühlungsvermögen den Geschlechtsakt zur Kindererzeugung durchführen müssen. Wegen dieser tiefen neuronalen Verankerung sind Generationen zur Befreiung notwendig, in der sich die nächsten Generationen immer wieder die Schäden und Ängste vor Augen führen.

In deutschen Märchen wie Aschenputtel und Dornröschen wird der Erretter durch einen Prinzen, als Vatersymbol und zugleich als Sohnessymbol, symbolisiert, der wie bei Dornröschen aus einem 100 jährigen Schlaf erweckt. Der hundertjährige Schlaf ist so etwas wie der Tod, ein Symbol des Todes. In meiner heutigen Übersetzung ist der Prinz der Vater und der Sohn zugleich, der durch sein Vorbild, indem er die Normen, Gebote und Verbote nicht mitmacht und anerkennt, aus der Umklammerung durch die Normen der Familie und der Mutter heraus führt, ein Gegengewicht bildet, durch das das Kind vermehrt Selbstbewusstsein, Bewusstsein des eigenen Selbst, entwickeln kann. In den meisten Märchen ist die Schwiegermutter die Böse, die dem Kind das schreckliche angetan hat, eine Verschiebung von der Mutter, um die gute Mutter zu erhalten, die so etwas schreckliches dem Kind nie antun würde und auch nicht darf.

Wut und Trotz: Wenn ein Gebot oder Verbot ausgesprochen wird, ohne die Gründe und Hintergründe zu benennen und dem Kind durch automatischen Gehorsam oder Kadavergehorsam einen eigenen Raum zum Widerspruch zu gewähren, die das Kind nicht verstehen kann, verführt das automatisch zu Widerstand, Wut und Trotz. Der Trotz dient also der eigenen Selbstbehauptung und -bestimmung und zum Lebenserhalt. Ohne diesen Widerstand ginge das Kind in seiner Selbstbestimmung völlig unter, weil es ja für sein weiteres Gedeihen die Liebe,Zärtlichkeit, Achtung und Zuwendung dringend braucht. Je früher dem Kind die lebenserhaltende und verständnisvolle Zuwendung, etwa bei einer depressiven oder einer ablehnenden Mutter, entzogen wird, desto mehr wird bei ihm Trotz und Widerstand erzeugt, auf welchen Ebenen nun immer. Die Ebenen sind der Traum, der Wahn und Symptome über die gesamte Krankheitspalette, in der die Selbstbestimmung wieder erwacht. Die frühkindlichen Traumatisierungen im Vorerinnerungsalter etwa durch Entzug der Zuwendung, durch mangelndes Zärtlichkeit, Vernachlässigung, durch Prügel und sexuellen Missbrauch, durch Verachtung, Entwertung und Strafen laufen auf der körperlichen Ebene. Dann neigt der Mensch zu körperlichen Reaktionen und Krankheiten, das sind Autoaggressionen, nämlich die Wut, die sich gegen das Umfeld richtet, richten sich durch die Verinnerlichung gegen sich selbst.

Die frühen Erfahrungen legen die Basis für späteres Erleben. Es wird dann überall eine Ablehnung hinein interpretieren und dementsprechend wütend und trotzig reagieren, und kann kein Lob, Anerkennung oder Wertschätzung annehmen. Dadurch findet ein Kreislauf der Ablehnung und Entwertung statt.

Der Trotz ist dadurch gekennzeichnet, dass an die Inhalte und an das Vergehen geglaubt wird, die Mutter und Familie hat sozusagen Definitionshoheit, und trotzdem auf der unteren Ebene Widerstand besteht, es sozusagen zum Trotz verführt wird. Der Mensch lässt sich nicht vollständig unterdrücken. Irgendwo kommen das Selbstbestimmungsrecht, die Wut und Rache zum Ausdruck, wenn auch im Traum, im Wahn oder in Krankheitssymptomen. Da die Gebote und Verbote vom Umfeld verinnerlicht werden, im Kind sind, es mit den Eltern identifiziert ist, wird die Wut und der Trotz des Kindes gegen das eigene Selbst, die eigene Person gerichtet, werden autoaggressiv und selbstdestruktiv (verarbeitet). Deswegen sind der Trotz und die Wut zu einer positiven Lebensgestaltung nicht erfolgreich.

Ein Beispiel hierfür ist die Anorexia nervosa, der Pubertätsmagersucht. Die Magersucht imponiert dadurch, dass die meist jungen Frauen trotzig gegenüber guten Ratschlägen des Umfeldes, hauptsächlich der Mutter und total das Essen verweigern. Sie treiben exzessiv Sport und nehmen Abführmittel, um abzunehmen und nicht wie normale Frauen zu erscheinen. Sie werden an psychiatrischen Kliniken untergebracht und werden künstlich ernährt. Unter Umständen sterben sie an ihrer Erkrankung – höchst selbstdestruktiv. Dahinter steht ein verzerrtes Körperbild, in dem sämtliche Gewichtszunahme sie wie eine schwangere Frau, wie die Mutter, aussehen lässt, und die sie gegen dieses Bild mit allen Mitteln ankämpfen lässt. Sie selbst betrachten sich als völlig normal, verleugnen also selbst ihr Krankheitsbild. Hintergrund ist, dass sie als Kinder stark gedemütigt waren, und ihr Kampf gilt der Autonomie.

Ich hatte einmal eine junge Frau in Behandlung, die mir glaubhaft versicherte, 12 Jahre lang unter einer Magersucht gelitten zu haben mit einem Durchschnittsgewicht von 28 kg und dem niedrigsten Gewicht von 25 kg bei einer Größe von etwa 1,65. Sie erzählte von den Demütigungen ihrer Kindheit. Als sie sich zur künstlichen Ernährung in einer weit entfernten Spezialklinik befand, jammerte sie, sie hätte sich so einsam gefühlt, wäre nicht einmal von den Eltern besucht worden. Als ich sagte, „gab es nicht eine Schwester oder einen Pfleger, zu dem sie Vertrauen haben konnten?“, teilte sie mir trocken mit, „wie kann man auf einer Station Vertrauen haben, wo 12 Magersüchtige Eltern und Personal reinzulegen versuchen“. Als sie mit 25 zu Hause, einer oberhessischen Kleinstadt, auszog, war die Magersucht vorbei, und sie suchte mich etwas pummelig aus Sorge um mögliche Nachfolgeschäden und ihrem Ehemann, einem Spritzenanabolikabodybuilder (das Gegenstück zu ihrer früheren Dünnheit), der täglich mit seiner Mutter 2 Stunden telefonierte, auf.

Ein zweites Beispiel dafür ist die Bulimie, die Fress-Kotz-Sucht. Die Kranken leiden unter Fressanfällen, dann stecken sie den Finger in den Hals und kotzen alles wieder heraus, damit man ihnen nichts ansieht und sie nicht zunehmen. Normalerweise bilden sie auf die Dauer Elektrolytstörungen aus. Eine Kranke berichtete von einem bulimischen Anfall, dann erzählte sie zufällig, dass die Mutter angerufen hätte und auf ein Stöhnen ihrerseits hat die Patienten den Hörer auf die Gabel geschmissen und anschließend einen bulimischen Anfall gehabt. In dem Moment des Stöhnens tauchte bei ihr die Gesamtheit der Vorwürfe der Mutter, sie hätte wegen ihr ein so schweres Leben gehabt und ihr eigenes Leben aufgegeben. Des weiteren merkte ich, wenn die Patienten von einem bulimischen Anfall gesprochen hatte, dass wieder die Mutter angerufen hatte. Die Patienten selbst hatte davon keinerlei Wahrnehmung, anfangs, bis sie langsam das selbst merkte.

Adpöse und übergewichtige Frauen leiden normalerweise darunter, dass sie in ihrer Einschätzung von den Männern nicht anerkannt und gemocht werden. Deswegen essen sie unentwegt als Ersatz und bilden Kummerspeck heraus. Wenn dann doch mal ein Mann Interesse an ihnen zeigt, dann sagen sie, „der muss pervers sein und einen Perversen wollen sie auch nicht haben“.

Bei allen diesen Beispielen von Essstörungen wird deutlich, dass man über den Wahn wie über einen Witz lachen kann, wenn man genügend Abstand dazu hat und nicht darunter leidet. Ansonsten ist das Geschehen ziemlich traurig.

Außerdem bildet das Kind für seine Ohnmacht und Entwürdigung, je früher desto mehr, ein Größenbild heran, ein Bild von Unabhängigkeit, Souveränität, Stärke und Unversehrtheit, das überhaupt nicht der Realität entspricht. In diesem Bild wird es Gott gleich und alles, was dem zuwiderläuft, ist des Teufels. Ein jeder kennt den Säugling, der ohne Rücksicht auf die Umgebung einfach schreit und sein Recht einfordert. Sein Recht sind Wärme und Geborgenheit, Gelassenheit und keine Ängste und Spannungen, die sich auf ihn übertragen, eine Wertschätzung, die er unbedingt zur Lebenserhaltung und zu seinem Gedeihen braucht. Wenn nicht auf seine Elementarbedürfnisse eingegangen wird, so bleibt trotzdem das Größenbild auf der unteren Ebene halten, andererseits fühlte es sich auf der oberen Ebene gegenüber diesem unbewussten Größenbild minderwertig, ist verzweifelt und voller Wut und Trotz. Es findet eine unüberbrückbare Spaltung in der eigenen kindlichen Person statt und diese bleibt auf beiden Ebenen lebenslang unbewusst bestehen.

Dies Größenbild und der Trotz sind wiederum Gegenstand der Schuld und müssen zum Ausgleich und zur Vergeltung bestraft werden. Die Strafe ist die Rache und Vergeltung der Autorität und zugleich Wiedergutmachung. Der Anteil der Unschuld, zu Unrecht beschuldigt zu werden, erzeugte Wut und Vergeltung. Um aus diesem Dilemma der Schuld herauszukommen, sind die Folge die Erlösungsmythen.

Wegen der Schwere und der Jahrhunderte alten Tradition von Schuld reicht ein normaler Mensch nicht, es muss ein überirdisches Wesen, ein Gott sein, der genügend Macht besitzt und allwissend ist. Ein frischer und neuer Geist muss entstehen, um der Jahrhunderte alten Spirale von Schuld und Sühne zu entkommen. Im christlichen Mythos war dadurch der Heilige Geist geboren, eine dritte Instanz und Bindeglied zwischen Vater und Sohn, natürlich göttlich, die Dreifaltigkeit Gottes.

Wenn nun die Eltern beispielsweise unter Schande und Verachtung leiden, so wünschen sie sich nichts sehnlicher, als dass ihr Kind sie aus diesem Leiden hervorgeholt und befreit. Schließlich wollen alle Eltern für ihre Kinder nur das Beste. Es besteht also die Erwartung, dass das Kind Widerstand leistet, ihren Geist korrigiert und nicht an die Schande glaubt. Vordergründig muss es jedoch alles tun, um die Schande nicht offenbar werden zu lassen, aber hintergründig jedoch eben nicht. Die Ambivalenz der Eltern ist unvereinbar. Das Kind muss einerseits brav sein und andererseits muss es Widerstand leisten. Dann sind die Eltern stolz auf ihre Kinder. Da beides gleichzeitig nicht geht, ist das Kind völlig überfordert und es entsteht dadurch eine Spaltung zwischen vordergründig und hintergründig oder einer oberen und unteren Schicht. Die vordergründige Schicht wird beim Zuwiderhandeln bestraft und auf der hintergründigen Ebene wird das Kind dafür gelobt und geliebt. Das Kind ist wie ein Erlöser und Erretter.

Wenn die Kinder es besser haben als ihre Eltern, dann wird bei den Eltern normalerweise Neid erzeugt, gerade unter traditionell traumatischen Bedingungen. Das ist Sinn des Ahnenkultes, um die Ahnen milde zu stimmen. Aufgrund des Neides erheben sie Gebote und Verbote, damit das Kind es nicht besser als sie hat, die wiederum den Trotz und die Wut des Kindes provozieren. Die Eltern wollen jedoch nicht der Neid vor sich selbst wahrhaben, er ist ihn ja auch nicht bewusst und auf der unteren automatischen und reflektorischen Ebene, quasi im Netzwerk. Dann erklären Sie ihren Kindern, all diese Verbote und Verbote seien nur zu ihrem Besten, ähnlich wie die sexualverstümmelnden Mütter im afrikanischen Brauchtum. Die Moral dient der Abwehr ihres Neides. Sie haben ihre Rollen vertauscht und sind dann die Guten. Wegen ihres Neides leiden sie unter Schuldgefühlen, die sich wiederum mit dem Neid auf das Kind übertragen. Das Kind hat auch wegen seines Trotzes und der Wut Schuldgefühle. Insofern sind Eltern und Kind in der Wut und den daraus resultierenden Schuldgefühlen vereint.

Nun kommen wir wieder zurück zur anfänglichen Bemerkung des Patienten, die er grinsend aussprach. Wenn diese Bemerkung akzeptiert und wert geschätzt wird, ist dies ein frischer, neuer Geist in dieser unendlichen Spirale von Wut, Trotz, Bestrafung, Schuld und Widerstand, der alttestamentarischen Erbsünde, durch den sogar Tote
erweckt werden können, dadurch im Mythos die Auferstehung, als Parabel verstanden.

Vor allem im Krankheitsgeschehen bei Depressionen, Schmerzzuständen u.a. führt das Eingeständnis der inneren Wut zu einer Erlösung, zu einer Entspannung und dadurch zur Gesundung. Das Unterdrücken der eigenen Wut hat sehr starke Auswirkungen auf den eigenen Körper und führt zur Symptomatik. Man kann sie auch als Autoaggression
auffassen, weil nämlich die Mutter und Familie durch den gemeinsamen Glauben im eigenen Körper sich befinden, und somit die Aggressionen gegen das eigene Selbst und den eigenen Körper und die Seele richten. Man ist also sein eigener Gott, und ist nicht von einem äußeren Gott-Heiler abhängig, der sowieso bei fortbestehender und unterdrückter Wut völlig hilflos ist und diesen Zustand auf körperliche Gegebenheiten, beispielsweise die Gene zurückführt.

Sie sehen, eine Kindheit unter traumatischen Bedingungen und Traditionen ist eine äußerst komplizierte und komplexe Sache. Da haben Religionen schon ihren Sinn. Ein Gott dient dem Schutz, dem Trost und Beruhigung in den Widersprüchlichkeiten des Lebens. Da kann man schon verrückt werden, und manch einer wird es auch, etwa 1% der Bevölkerung. Der Mensch muss in jedem Augenblick an irgendetwas glauben, er lebt in einer Realität. Dabei ist es förderlich, selbstreflektiv die Komplexität, die Ambivalenzen, die Widersprüchlichkeiten, die mangelnde Gradlinigkeit, und das vordergründige und hintergründige Geschehen zu betrachten, wozu dieser Artikel beitragen soll.

Anmerkung:

Vorstehender Beitrag von Dr. Bernd Holstiege wurde in Salon Philosophique am 4.2.2019 erstveröffentlicht.

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