Die Suche nach den leiblichen Eltern ist kein ungewöhnliches Thema für einen Dokumentarfilm. Doch in „Alle meine Väter“ endet diese Suche auf so außergewöhnliche Weise, wie es weder Jan noch seine Angehörigen zu Beginn der Dokumentation vermuteten. Gerade als er am Ziel angelangt scheint, muss Jan erkennen, dass er tatsächlich erst am Anfang seiner Suche steht. Obwohl seine Mutter nie offen mit ihm darüber gesprochen hatte, wusste Jan, dass der Vater seiner Geschwister nicht sein eigener ist. Jan ist das Kind aus erster Ehe. Nach der Trennung heiratete die Mutter erneut. Ihr neuer Partner ist für Jan bis heute wie ein Vater. Hier setzt die Mehrdeutigkeit des Filmtitels an, welche sich nicht nur auf Ziehvater und leiblichen Vater bezieht. „Alle meine Väter“ spielt auf die Bedeutungsvielfalt an, welche der Begriff des Vaters aus der Perspektive eines Kindes haben kann. „Du bist mein Vater.“, sagt der junge Regisseur einmal zu dem Lebenspartner seiner Mutter, welcher aus genetischer Sicht eben nicht sein Vater ist. Im emotionalen Sinne jedoch ist er es. Wichtiger als der leibliche Vater ist eine liebevolle Vaterfigur. Dennoch spürt man das Gefühl der Leere, der Unvollständigkeit der eigenen Biografie, welches den Anstoß zu dem Dokumentarfilm „Alle meine Väter“ gab.
Es gibt keine Gefühlsausbrüche, keine melodramatischen Enthüllungen. Raiber inszeniert sich nicht als zerrissener Held seines eigenen Dramas. Gezielt behält er einen sachlichen, fast trockenen Ton bei. Die lange gehüteten Familiengeheimnisse enthüllen sich nicht in spektakulären Geständnissen. Die Wahrheit sickert langsam an die Oberfläche durch. Nicht immer dreht sie sich unmittelbar um die Frage nach dem leiblichen Vater. Ebenso wichtig ist für Raiber in „Alle meine Väter“ die Persönlichkeit seiner Protagonisten besser zu begreifen. Vertuschte Konflikte, Lügen und Gewalttätigkeiten verbergen sich unter der Oberfläche der äußerlich intakten Familienbiografie. Fast scheint es, als sei es einfach an der Zeit gewesen, dass das Verschwiegen endlich offen ausgesprochen wird. Diese Aussprachen fallen keinem der Beteiligten leicht. Besonders Jans nach außen hin unbeschwerter Mutter merkt man an, wie sehr sie das über Jahrzehnte gewahrte Geheimnis belastet. „Alle meine Väter“ zu kenne ist für Raibers Familie genauso befreiend wie für ihn. Neben der Suche nach dem Vater dokumentiert der Film den Dreh als Raibers individuelle Art der Konfliktverarbeitung. Mehrfach steht Raiber vor der Frage, seinen Film abzubrechen. Doch er weiß, dass er sie abschließen muss, um mit seiner Biografie abzuschließen. „Wenn ich mich selbst nicht damit konfrontieren kann, wie will ich dann Fremde damit konfrontieren?“, fragt er. Mit „Alle meine Väter“ ist ihm beides gelungen.
Titel: Alle meine Väter
Berlinale Perspektive Deutsches Kino
Land/Jahr: Deutschland 2009
Genre: Dokumentarfilm
Regie und Buch: Jan Raiber
Kamera: Clemens Baumeister
Laufzeit: 89 Minuten
Bewertung: ***