Begonnen hatte der Abend mit einer Lesung des unter Literaturliebhabern bestens bekannten Schriftstellers und Dichters Michael Krüger, der seine Romane und Gedichte heute im Suhrkamp Verlag veröffentlicht. Er las aus „Die Turiner Komödie“, einem Roman von 2005, das gesamte fünfte Kapitel. In diesem entfaltet sich die Grundkonstellation so richtig. Der nicht schriftstellerisch tätige Freund und Nachlaßverwalter sucht in der Wohnung des durch Selbstmord Hingeschiedenen in Turin nach dem sagenhaften Roman, der dessen letztes Werk werden sollte. „Einmal noch wollte er in einem titanischen Kraftakt die Form herausfordern“ für sein opus magnum. Was bei der Lesung auffallen, sind so Sätze wie „Ich bin zu alt für Reife, hieß eine seiner albernen Selbstbezichtigungen“”¦“Wer mein Buch anfaßt, muß eine ständige elektrische Berührung spüren, ”¦“.
Inhaltlich verfolgt man gespannt nicht nur die Suche nach dem Manuskript, sondern auch die Bewertung gegenwärtiger Literatur des toten Literaten als „Mittelstandsprosa“, die nun der Nachlaßverwalter reflektiert: „Besonders der amerikanische Roman mit seinen verzweigten Familiengeschichten war ihm zuwider. Eine dem Irrsinn verfallene Tante, ein ewig betrunkener Vater mit einer starken Neigung zum Inzest, eine verhärmte Ehefrau, die den Pfarrer liebt, eine gottverlassene Gegend und ein paar Kinder, die damit nicht zurechtkommen – normale Familienromane eben, die man nur bei den Nachbarn abschreiben mußte, das war nicht das, was er unter Literatur verstand.“ Aber das ist nur die äußere Ebene, in der Wohnung enthüllt sich nämlich auch das Beziehungskonstrukt des doch angeblichen Misanthropen mit gleich drei Frauen, was Sie selber weiterlesen können.
Denn das war zusammen mit zwei dargebotenen Eigenkompositionen von Claus Kühnl nur der Auftakt zum eigentlichen Ereignis des Abends, der Vertonung „Vom Grunde des Brunnens – sieben Lieder nach Gedichten von Michale Krüger durch Claus Kühnl aus dem Jahr 2001, selbst am Klavier, und dem Gesang durch Johannes Wilhelmi, Bariton. Kühnl muß man in Frankfurt nicht vorstellen. Er hatte hier das Mutare-Ensemble mitbegründet und an den verschiedenen Musikeinrichtungen von Uni bis Hoch’schem Konservatorium gelehrt und hat als Komponist, Dirigent und Pianist die von heute aus ob ihrer Qualität und finanziellen Ausstattung sagenhaften Frankfurt Feste Anfang der 90er Jahre mitgetragen. Später erzählte er, wie er dazu kam, im Rahmen eines größeren Kompositionsvorhabens – 20 Lyriker werden von 20 Komponisten vertont – gerade Michael Krüger auszuwählen und unter den siebzig Gedichten sich auf diese sieben zu kaprizieren, die er selbst zu einem Strauß zusammenband. Warum also Krüger? Ganz einfach: „Ich war von seinen Gedichten begeistert.“
Auf die immer schwer zu beantwortende Frage: „Warum“ und ob es die Inhalte, die Sprache oder was sonst sei, und wonach ein Komponist überhaupt Texte auswähle, antwortete er, daß es die Verbindung von Gehalt und sprachlichem Ausdruck sei, ihn sprächen die Gedichte von Krüger wegen der Bilder an, die die Worte erzeugen, also die Metaphern. Erstaunlich allerdings sei, daß seine subjektive Auswahl dieser sieben Gedächte später von einer Gedichtsanthologie wiederholt worden sei, ohne irgendeinen Bezug zu ihm, tatsächlich als eigenständige erneute Fixierung auf diese Gedichte innerhalb von vielen.
Das alles wäre ohne den jungen Bariton Johannes Wilhelmi abstrakt geblieben, der durch seinen Gesang Gedicht und Vertonung auf eine neue sinnliche Ebene hob. Abgesehen davon, daß er so textdeutlich sang, daß die vorherige Lesung von Michael Krüger des durch Claus Kühnl erstellten Zyklus in einem Gedichtserinnerungsfetzen zurückließen, von denen wir hoffen, daß wir sie richtig erinnern, denn wir hatten vorher noch kein Gedicht von Michael Krüger gelesen und besitzen seine zahlreichen Gedichtbände nicht – also abgesehen davon, sang Johannes Wilhelmi so unprätentiös und in einer Mischung aus Kunst und Natürlichkeit, die sich Liedersänger und Liederhörer wünschen, diese sieben, im Ton, im Inhalt, in der Komposition völlig unterschiedlichen Vorgaben, als ob ihm diese gerade in den Sinn kämen und er selbst seinem Gesang und dem, was dieser in ihm auslöse, lauschte. Eine Gesangskunst, die leicht daher kommt, aber schwer zu machen ist.
Wir schildern einfach unseren Eindruck. „Wettervorhersage“ versetzt einen auf die Opernbühne. Nicht vom Inhalt, wo beschrieben wird, was irgendwann und irgendwann geschehe, sondern vom Durchjagen aller möglichen Gefühlssituationen, die noch dazu den Sänger zu einer sehr hohen Stimmlage zwingen, demnach er diese opernhafte Attitüde als dramatischen Ausdruck des Geschehens nutzt. Geradezu gegensätzlich dann „Auf den ersten Blick“, wo wir einer Erzählung absichtslos ’eigentlich` lauschen, die geradezu minimalistisch einzelne Töne setzt, eine Musik zum Nachdenken, die die Töne im Raum verliert. Die „Schlaflosigkeit“ gebiert „In sirrender Hitze der Nacht hörte ich die Kastanien platzen, aus jeder grünen Schale sprang ein brauner Kern“ und grub sich uns lautmalerisch ins Hirn. Das vierte Gedicht, „Die Schlüssel“ hatte es uns schon beim Krügerschen Vortrag angetan.
Wie hier der aufgefundene alte Schlüsselbund anthropomorphe Eigenschaft des einzelnen Schlüssels evoziert: „Jeder träumt von einer anderen Tür, von einem anderen Jahrhundert”¦“ und damit unsere romantischen Gruselvorstellung von Herzog Blaubart bis Barbarossa wachruft, ein anderer Schlüssel hat einen „assyrischen Bart“, eine tolle Kombination, ein witziges Sprachbild mit den jeweiligen Bärten der Schlüssel und dem ’Barte des Propheten` und dem Geschichts/Archäologiebezug. Johannes Wilhelmi sang das so spritzig hingebungsvoll, daß jeder Schlüssel sein Eigengewicht erhielt und als wir ihn nachher fragten, welches sein persönlich liebstes Gesangsgedicht sei, wunderten wir uns gar nicht, daß es „Die Schlüssel“ waren, denn das konnte man hören. Wenn am Schluß des Gesangs das Haus erleichtert aufatmet, weil alles wieder beisammen ist, fragen wir uns noch immer, was es auf sich hat damit, daß wir einmal hörten, daß der Schlüssel in ein ’liebesmüdes Herz` passe oder ein andermal ’lebensmüdes Herz` verstanden. Ach, und dann wollten wir es gar nicht mehr genauer wissen, und dies in der Spanne belassen.
Auch „Nachts“ hat eine eigene musikalische Sprache, wenn die „Gräser weinen“. Dramatisch und heftig geht es zu, wobei die Dramatik nicht im Auf und Ab zu hören ist, sondern sozusagen in der Daueraufgeregtheit der musikalischen Textur. „Radfahren“ geht wieder in einen erzählerischen Ton über und der Schlußgesang „Im Gebirg“ setzt wirklich das Ende.
Was an dem Abend das Erstaunliche war? Daß man nicht Franz Schubert hörte und sich deshalb ob der empfundenen Gefühlsqualität also wundern durfte, daß man überhaupt keinem Kunstlied des 19. Jahrhunderts, sondern welchen des 21. Jahrhunderts lauschte, daß man um den intimen Rahmen froh war, daß man im Rahmen des musikalischen und Literaturgroßbetriebes geradezu genoß, daß hier einmal die „Originale“ versammelt waren, der Dichter, der Komponist als Pianist und der junge Sänger, denen man ihre Freude am gemeinsamen Werk anmerkte und anspürte. Mit einem Wort, ein Abend, für den man sich bei den Initiatoren der Romanfabrik von Herzen bedankt und beschließt, doch öfter wieder dorthin zu pilgern, auch wenn die an diesem Abend gelegte Latte für die nächsten Veranstaltungen hoch ist.
Der Gedichtband von Michael Krüger, „Wettervorhersage“ im Residenz Verlag, ist vergriffen. Seine im Suhrkamp Verlag erschienen Romane und Gedichte sind lieferbar.