Berlin, Deutschland (Weltexpress). Wie durch eine Geschichtstüre betritt man eine untergegangene Welt: Oberschlesien in „Ostdeutschland“, wie es damals noch hieß, Gleiwitz 1943. Und man ist sofort mittendrin, gleichsam ein weiteres Familienmitglied. Glänzend! Selbst wenn man sich mit der reinen Lektüre zufriedengäbe, ist dieses gerade erschienene Werk des Romanciers und politischen Kommentators Wolfgang Bittner die Überraschung des Jahres 2019. Des Jahres, in dem allerorten an Versailles erinnert wird, wo vor einhundert Jahren die Grundlage dafür gelegt wurde, nach Ende des Ersten Weltkrieges den Zweiten Weltkrieg zielgerichtet ansteuern zu können. Am Ende dieses Krieges, der mit dem Überfall Deutschlands auf Polen vor achtzig Jahren begann, stand der Verlust des deutschen Ostens, den Wolfgang Bittner nun geradezu tagesaktuell wieder auferstehen lässt.
Wolfgang Bittner lädt den Leser ein, am Tisch einer schlesischen Familie Platz zu nehmen und sie in all ihren Facetten kennenzulernen. Während im Westen Deutschlands die Städte seit Jahren in die Steinzeit zurückgebombt werden, bestimmen im Osten Gerüchte das Leben – bis zu dem Augenblick, an dem die Kriegsfurie auch hier zu wüten beginnt, was sich fast bis zum Kriegsende hinausschiebt. Ein Sturm, der die Menschen zwischen Königsberg und Oppeln hinwegfegt und sie bis an die holländische Grenze treibt. Gewissheiten gibt es keine, schon gar nicht dass man auf Hilfe rechnen kann, wenn man in Scheunen und ehemaligen Bunkern Platz finden muss.
In einer Zeit, die von Migration bestimmt ist, sollte nicht in Vergessenheit geraten, wie ungeliebt damals diese Menschen, Strandgut des Krieges, bei denen waren, wo sie zunächst unterkamen, etwa bei Bauern, die sich und ihr eigenes Vieh noch selbst versorgten. Und es war keine Zeit des Übergangs, denn die Barackenlager blieben bis in die 60er-Jahre hinein Sinnbild für die Entwurzelung der aus ihrer Heimat verjagten Menschen. Deren Angaben über zurückgelassenen Besitz und Eigentum im Osten werden in Bittners Roman von den Einheimischen mit Häme kommentiert. Kein Wunder also, dass die Vertriebenen versuchen, den schlesischen Kosmos, eine zunehmend verdämmernde Welt, im „Goldenen Westen“ irgendwie am Leben zu erhalten, etwa durch Gespräche mit Landsleuten oder auch im liebevoll beschriebenen „Salon“, wo die Entrechteten zusammenrücken, um gemeinsam Vergangenheit und Gegenwart zu bewältigen.
Wir sollten uns nicht täuschen lassen: Wolfgang Bittner widmet sich nicht allein einem tragischen Abschnitt der deutschen und europäischen Geschichte. Vielmehr führt er uns in die Befindlichkeiten von heute. Damals nahmen die heutigen Bundesländer zwischen Elbe und Oder einen Großteil der Vertriebenen auf. Dort war man näher dran an deren verlorener Heimat und nahm wahr, was sich zwischen dem Annaberg, der Schneekoppe und der Kurischen Nehrung abspielte. Und wir erinnern uns heuer nicht nur an Versailles 1919 und den Kriegsbeginn 1939, es ist dreißig Jahre her, dass die Mauer und der Stacheldraht verschwanden, was die Frage nach der Zugehörigkeit der ehemals deutschen Ostgebiete in einer besonderen Dynamik wieder hochspülte. – Wie sollte die Zukunft zwischen Polen und Deutschland aussehen? Das war mit allen globalpolitischen Implikationen die entscheidende Frage, und sie wurde, Grenzen hin oder her, in einer europäischen Perspektive der guten Nachbarschaft gelöst. Das gemeinsame neue Europa sollte gleichsam das Netz sein, um die Geschichte, die ja die Geschichte der Menschen ist, aufzufangen.
Dieser gemeinsame europäische Geist erhielt am 4./5. September 2015 durch die deutsche Bundeskanzlerin gleichsam den Todesstoß. Sie stellte die deutschen Grenzen schutzlos und wollte die Folgen unseren polnischen Nachbarn aufzwingen. Seither geht ein Riss durch Europa, und das Versöhnungswerk liegt in Trümmern. Damit wir die Dimension begreifen und nur verantwortbare Schlüsse ziehen, ist das Buch von Wolfgang Bittner das „Zeichen an der deutschen Wand“.
Bibliographische Angaben
Wolfgang Bittner, Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen, 352 Seiten, Verlag: Zeitgeist, 1. Auflage, Höhr-Grenzhausen, 25.3.2019, ISBN: 978-3-943007-21-3, Preis: 21,90 EUR (D)