Berlin, Deutschland (Weltexpress). Es ist nichts vorbei. Der Antisemitismus ist in Deutschland gegenwärtig und zeigt sich in Judenhass und Beleidigungen bis zu Gewalt- und Mordtaten. Das erschreckt alle Menschen »guten Willens».
Und dann passiert etwas, was man »sich gar nicht vorstellen konnte». Ein Neonazi, bekannter Holocaustleugner, wird im Grabe eines Juden begraben, und fünfzig Gleichgesinnte sind dabei. Großer Bahnhof. Voller Erfolg. Geschehen am 8. Oktober auf dem evangelischen Südwestfriedhof in Stahnsdorf im Grabe des jüdischen Musikwissenschaftlers Max Friedlaender (1852-1934).
Jeder Friedhofsverwalter in Deutschland weiß oder hat gehört, dass Antisemiten jüdische Friedhöfe oder Grabmale schänden. Naja, nicht bei uns, wir sind ja christlich. In Stahnsdorf steht noch der Grabstein des Gelehrten, sogar unter Denkmalschutz, aber das Grab war »aufgelassen». Zwar wusste man bei der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz, wer der zu Bestattende war. Man blickte in die Vorschriften und fand, jeder Mensch habe ein Anrecht auf eine letze Ruhestätte. Nachdem andere, zum Beispiel Antifaschisten und der Zentralrat der Juden in Deutschland, ganz anderer Meinung waren, bedauerte man seinen »Fehler» tief und will versuchen, die Sache rückgängig zu machen. Und: Nun wird man das Leben Max Friedlaenders »erforschen»! Die »Öffentlichkeit» beruhigt sich mit Entschuldigungen, bis irgendwo der nächste Skandal passiert.
Wer sich den Vorgang erklären will, greift zu dem Gemeinplatz, der Antisemitismus komme aus der Mitte der Gesellschaft. Dazu darf sich auch die Kirche rechnen. Das offizielle Deutschland feiert 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland, aber im Kopf vieler Bürger sind das noch »andere». Gegen den Antisemitismus gibt es Verbote, Strafen und Erklärungen von Politikern und Parteien. Der Nutzen ist begrenzt, viele Vergehen bleiben unaufgeklärt. Da hilft nur Aufklärung über Geschichte und Politik. Aber an deutschen Universitäten ist das Wort Faschismus verpönt und an den Schulen wird der Geschichtsunterricht sehr aussparend gehandhabt, zum Beispiel erinnert sich Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, dass er an ihrem Gymnasium mit dem Ersten Weltkrieg aufhörte. Wo ändert sich das in den Lehrplänen? Von unschätzbarem Wert sind Zeitzeugen, Überlebende der Naziverbrechen. Esther Bejarano, Kurt Goldstein, Erna de Vries, Arnold Munter, Bruno Apitz, Rosemarie Schuder, Rudolph Hirsch, Margot Friedlander und viele andere klärten und klären unermüdlich auf, so lange sie leben.
Besonders präsent ist in diesen Tagen Margot Friedlander, die heute100 Jahre alt wird. Ihr war dieser Tage ein »Philharmonischer Diskurs» der Berliner Philharmoniker gewidmet, gewissermaßen eine Vor-Geburtstagsfeier. Wo sich sonst 100 Leute im Ausstellungsfoyer versammelten, zog es dieses Mal 700 Zuhörer in den Kammermusiksaal, um Margot Friedlander zu hören, die, wie schon hunderte Male, aus ihrem Leben erzählte. Sie sagt, sie erzählt es jedem, der es hören will. Sie berichtet unaufdringlich, flüssig, mit ruhiger, leiser Stimme, fast trocken, als höre sie in sich hinein. André Schmitz, der Moderator, lenkt die Rede behutsam auf die wichtigsten Abschnitte ihres Lebens,fragt sie zuweilen nach einem Detail, nach ihren Empfindungen bei bestimmten Ereignissen wie bei der Trennung von ihrer Mutter.
1921 in Berlin in einer jüdischen Familie geboren, hatte sie nach ihren Worten eine »normale, nette Kindheit». Als die Nazis an die Macht kamen, sagte ihr Vater: »Uns meinen die nicht». Er war im Ersten Weltkrieg Soldat gewesen, ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz. Der Ernst der Lage wurde ihnen mit dem Pogrom am 9.November 1938 bewusst. Auch ihr Geschäft wurde »arisiert». Der Vater verließ die Familie, ging nach Belgien, wurde später verhaftet und in Auschwitz ermordet. Der Versuch der Mutter, mit den Kindern nach Brasilien zu emigrieren, schlug fehl. Eine Flucht gelang nicht mehr. Der Bruder wurde im Januar 1943 verhaftet, die Mutter folgte ihm, beide wurden nach Auschwitz deportiert und ermordet.
Der Bericht Margot Friedländers macht dem Hörer bewusst, welche unglaublichen Schikanen, Quälereien, Risiken, Angst und Not den Juden von den Nazis aufgezwungen wurden, der Zwang, fern von einem bürgerlichen Leben zurechtzukommen – um den meisten die Ermordung nicht zu ersparen.
Durch Mut und Geistesgegenwart entging Margot Friedlander der Verhaftung, lebte 15 Monate im Untergrund, wechselte 16 geheime Quartiere, ständig in Angst, wurde schließlich von Spitzeln verraten, verhaftet und in in das Konzentrationslager Theresienstadt (Terezin) verschleppt. »Man hat gelebt, aber auch nicht gelebt», sagt sie. »Wir waren doch ganz normale Menschen, ganz normale Deutsche». Nur der Vormarsch der Roten Armee verhinderte, dass auch sie nach Auschwitz deportiert wurde. Auch nach der Befreiung lebte sie in einem gleichsam unwirklichen Zustand. Noch in Theresienstadt heiratete sie ihren Mann Adolf. Nach dem Aufenthalt in mehreren Zwischenlagern konnten sie 1946 nach New York emigrieren. In den USA lebten sie ein zufriedenes bürgerliches Leben. Nach dem Tode ihres Mannes kam Margot Friedlander 2003 auf Einladung des Berliner Senats zum ersten Male wieder nach Deutschland. Sie entschloss sich nach weiteren sieben Jahren, 2010, nach Deutschland zurückzukehren. In ihrem jüngst erschienenen Buch »Ich tue es für euch» bekennt sie: »Ich liebe Deutschland, es ist meine Heimat, hier bin ich geboren, ich habe das Recht, hier zu sein.»
Seit ihrer Rückkehr wird sie von Schulen, Jugendgruppen, Gemeinden und Vereinen eingeladen, von ihrem Leben zu berichten. Das tut sie mit großem Fleiß. Was sie vermittelt, ist Zivilcourage, wenn es darauf ankommt. Unzählige Danksagungen junger Menschen machen sie froh. Dem Zuhörer iim Kammermusiksaal wird klar: Da ist eine Zeugin, die 100 wird, ein seltenes Glück. Aber dass sie überhaupt noch lebt, ist oft nur Zufällen zu verdanken – dass sie nicht gemeinsam mit ihrem Bruder verhaftet wurde, dass sie Menschen fand, die ihr in der Illegalität geholfen haben, dass sie im KZ nicht an Arbeitshetze, Hunger und Typhus umkam, dass kein Transport mehr nach Auschwitz ging. »Viel Glück, viel Mut. Und der starke Wille, es zu schaffen», sagt Margot Friedländer. Vor uns steht die Hundertjährige, hellwach, bescheiden, nobel. Der Gedanke an ein Wunder lässt den Betrachter erstarren. All die Ermordeten hätten ein friedliches Leben genießen wollen, mit allem, was zum Leben gehört. Die Vernichtungsmaschine ließ Millionen Juden keine Überlebenschance.
Im Kammermusiksaal dankten die Gäste Margot Friedlander mit langem, stehendem Beifall. Der Abend wurde zur Kundgebung gegen Antisemitismus und Nazibarbarei.
Anmerkung:
Der Beitrag erschien in der Tageszeitung „junge Welt“ in kürzerer Fassung.