Auch ist inzwischen die Genitalverstümmelung ein Strafbestand, wenn sie in Deutschland ausgeführt wird. Das war aber nicht immer so. Dafür hat sich Terre de Femmes als einzige Organisation eingesetzt. In anderen Kulturen, vor allem im mittleren afrikanischen Gürtel, besteht noch der Ritus der Genitalverstümmelung oder der weiblichen Beschneidung. In Mauretanien ist vor allem auf dem Lande Zwangsmästen üblich und in Kamerun und den umgebenden Ländern das Brustbügeln. Alles sind fürchterliche Rituale, die dazu dienen, Frauen sexuell zu unterdrücken und zu unterwerfen.
Bei der weiblichen Beschneidung wird die Klitoris, das Lustzentrum, entfernt, eventuell sogar die kleinen und großen Labien herausgeschnitten, und dann die Scheide bis zur Bleistiftgröße zugenäht (Pharaonische Beschneidung). Das ist eine uralte, so genannte patriarchalische Tradition und zeigt, welche Macht die Kultur und Tradition auf die einzelnen Mitglieder hat. Die größte Angst der Männer ist, dass ein Mädchen nicht jungfräulich in die Ehe geht und nicht treu und anständig ist. Dahinter steht die Vorstellung, dass Frauen mannstoll und sexbesessen seien. Allerdings ist leicht vorzustellen, dass die Männer zur Kindererzeugung ebenfalls ein Martyrium durchlaufen, indem sie zwecks Kindererzeugung ganz vorsichtig, wenn sie nur ein bisschen rücksichtsvoll und mitfühlend sind, die Scheide weiten müssen. Die Beschneidung wird im Allgemeinen von dazu bestimmten Frauen ausgeführt, also Müttern, die vor allem auf dem Lande mit nicht sterilen Werkzeugen arbeiten. Krankheiten und eventuell Tod sind die Folge.
In Mauretanien werden dicke Frauen als begehrenswert empfunden. Fettleibigkeit gilt als ein Zeichen von Reichtum und Schönheit. Schwergewichtige, mollige Frauen werden vielfach als reich, hübsch und gesund betrachtet und gelten als anziehender für ehewillige Männer. Im Gegensatz dazu werden schmale, leichtgewichtige Frauen als arm, krank und als Schande für ihre Familien angesehen. Die erwachsenen Frauen nehmen Hormone, appetitanregende und dick machende Mittel, damit ihre Rundungen auch nach der Mast nicht verschwinden, und es jederzeit sichtbar ist, dass ihr Ehemann sie gut füttert. Bereits ab einem Alter von 4-8 Jahren trinken afrikanische Mädchen bis zu 20 Liter Kamelmilch täglich, zusätzlich Brei aus Hirse und Butter, Bohnen und Zucker. Die Kinder verbringen ihre Sommerferien in „Fütterungsfarmen“, wobei das Fressen zur Folter wird, die Praktik des „Zayar“. Wenn sie nicht mehr mögen oder können, drückt ein Röhrchen ihre Zunge nach unten, damit das Schlucken des Breis aus Hirse und Butter einfacher geht
Das "Brustbügeln" ist eine weitgehend unbekannte Form der Genitalverstümmelung und eine grausame Sitte in Kamerun und den umgebenden Staaten. Die Brüste junger Mädchen werden mit heißen Werkzeugen massiert. Durch diese Prozedur versuchen die Mütter oder Großmütter der Mädchen deren Brustwachstum zu unterdrücken, ihre Körper möglichst lange unattraktiv für Männer bleiben zu lassen, und die Mädchen vor frühen sexuellen Kontakten schützen. Die Eltern haben Angst, dass ihre Töchter sonst früh schwanger werden und die Schule abbrechen könnten. Über die Praxis des Brustbügelns war die kamerunische Öffentlichkeit wenig informiert, obwohl eine große Zahl Heranwachsender in diesem Land Opfer dieser Praxis sind.
Zu diesen kulturell verankerten Pratiken mache ich mir nun tiefenpsychologische Gedanken. Wenn nun Frauen an sich eine Genitalverstümmelung, Zwangsmästen oder Brustbügeln erleben, so erzeugt das bei dem Betroffenen Aggressionen, da ihre Mütter sie derartig vergewaltigenden und sehr schmerzhaften Prozeduren aussetzen. Da sie jedoch mit der Umgebung identifiziert sind, aufgrund eines fehlenden kulturimmanenten Selbstverständnisses und Selbstbewusstseins den Müttern glauben, die Mütter also in ihnen sind, geht die Wut gegen sie selbst, und die Aggressionen werden in Autoaggressionen umgewandelt. Um nicht an ihrer Wut zugrunde zu gehen oder daran zu ersticken, projizieren sie die Aggressionen und Wut wiederum wie von selbst, also unbewusst, nach außen, und da sie selbst Mütter werden, an die ihnen Nächststehenden und ihnen Gleichenden. Das sind ihre Töchter. So erhalten die Frauen selber über Jahrhunderte das so genannte patriarchalische System aufrecht.
Die Sache wird aber noch komplizierter. Auf die Männer und ihre Söhne haben die Frauen ebenfalls Aggressionen, da sie als Autoaggressionen auf die Männer verschieben und sie als Ursache für diese Zwangshandlungen orten. In der Frühphase des männlichen Lebens werden die Männer von ihren Müttern dominiert und zwar nicht immer zu ihrem Besten. Die Mütter haben die Definitionshoheit. Das erzeugt in den Männern Angst vor ihren Müttern und Wut auf die Mütter. Deswegen wünschen sie sich anständige und sozusagen „reine“ Frauen, die frei von Aggressionen sind. Symbolhaft dafür ist die Jungfräulichkeit, sind anständige und treue Frauen. Aus diesem Grund ist für sie eine normale Sexualität von Frauen unerträglich, und sie weben an diesem Ritual des patriarchalischen Systems mit. Sie rächen sich an ihren Frauen stellvertretend für ihre Mütter. Dass dieser Ritus so grausam ist, zeugt von den erlebten kulturimmanenten Grausamkeiten.
Beim Zwangsmästen liegen die Hintergründe dieses Rituals, außerhalb der erlebten Grausamkeit, ein Stück weit anders. Fettleibigkeit gilt ja als besonders attraktiv und als Schönheitsideal. Im Fett ihrer Frauen können sich die Männer so richtig suhlen und sich wohl fühlen, an normal gewichtigen Frauen nicht so sehr. Dies spricht allerdings für eine Kargheit und Kälte der frühkindlichen Beziehung zu ihren Müttern. Die Mütter haben ja auf ihre Söhne Wut in Ambivalenz zu dem Stolz über ihre Söhne. Bei uns werden deshalb auch von manchen Männern fettleibige Frauen bevorzugt. So hat sich über Jahrhunderte kulturell ein Konsens zwischen Männern und Frauen zu einem strengen Ritual herausgebildet.
Das Brustbügeln soll eine Reifung der Mädchen zu Frauen heraus zögern, damit sie nicht so früh verheiratet werden, an sich ein lobenswerter Ansatz. Die Grausamkeit allerdings, mit der es geschieht, spricht für die in der Gemeinschaft erlebte frühere Grausamkeit. Man kennt es halt nicht anders.
Ich habe einen Artikel vor vielleicht zehn Jahren im deutschen Ärzteblatt gelesen, wonach eine deutsche Ärztin sich einige Jahre im Südsudan aufhielt und berichtete, dass manche beschnittene Frauen trotzdem Lust verspürten. Warum tun Mütter ihren Töchtern solche Qualen an? Außer den oben dargestellten Gründen nehme ich an, dass ältere Frauen die Töchter um ihre Attraktivität und um ihre Zukunftsmöglichkeiten beneiden, während sie bei sich nur Alterung und Verfall sehen, also eine Art Jugendwahn. Bei Männern spielt sich ähnliches ab. Als Hinweis dient mir, dass in Kriegen die Söhne umkommen, die die Väter angezettelt haben, also einen Sohnesmord. Der Sohnesmord spielt sich viel häufiger ab als der Vatermord, an dem Sigmund Freud seine Psychoanalyse entwickelt hat. Auch bei uns schreiben häufig die Väter den Söhnen vor, was sie zu machen oder zu lassen haben, erkennen sie nicht an, also ermorden sie gewissermaßen die Söhne in ihrer eigenen Entwicklung.
Also bildet bei beiden Geschlechtern der Neid der Älteren auf die Jüngeren eine entscheidende Rolle. Ich erinnere daran, dass Ende des 19. Jahrhunderts die am meisten gelesenen pädagogischen Bücher den Tenor vertraten, "der Wille des Kindes ist um jeden Preis zu brechen". Das war kulturell verankert. Generationen von gebrochenen Menschen mussten ihre Aggressionen nach außen loswerden. Darin sehe ich die Hintergründe (außer den wirtschaftlichen Gründen) der beiden Weltkriege und der Grausamkeiten und Verbrechen an den Juden und anderen, vor allem, dass es ein Teil der Bevölkerung mit trug und nichts unternahm.
Normalerweise ist bei einer einigermaßen geglückten Kindheit ein Mensch so veranlagt, dass er bei dem Leiden eines Menschen ein stückweit mitleidet. Das ist neurobiologisch nachgewiesen, beispielsweise, wenn einem Mann Schmerzen zugefügt werden, leidet seine Frau emphatisch mit. Das ist die Grundlage der Empathie und dem Mitgefühl in der Zwischenmenschlichkeit. Wenn jedoch in der Kindheit kein Mensch mit dem Kind emphatisch mitgeschwungen hat, hat es das nicht gelernt und kann ebenfalls nicht emphatisch mitschwingen, bzw. wenn er grausam behandelt wurde, schwingt er in grausamer Weise mit. Das ist die Grundlage der Traumatisierung in der Mit- und Zwischenmenschlichkeit. In diesen Gesellschaften hat daher ein kulturell verankertes hohes Maß an Traumatisierung stattgefunden und findet immer wieder statt.
Ich möchte dazu anmerken, dass die frühkindliche Traumatisierung etwas anderes ist als ein Trauma, das einen Menschen später trifft, etwa Kriege, Vergewaltigung, sexueller Missbrauch, schwere Krankheiten und Unfälle, die sich zwar ebenfalls in die Psyche eingraben, aber nicht so tief in die Persönlichkeit wie frühkindliche Traumatisierungen. Diese graben sich unbewusst ein und werden eventuell kulturell verankert. Allerdings können sich spätere Traumata der Erwachsenen auf ein Kind auswirken, indem der Erwachsene Sorgen und Ängste um das Kind entwickelt, Gebote und Verbote ausspricht, und dem Kind das Leben zur Hölle gemacht wird.
In unserem Kulturkreis werden die Frauen zwar nicht so grausam behandelt, aber sie ringen noch immer um ihre Gleichberechtigung, beispielsweise in den höheren Rängen von Wirtschaft und Industrie. Dahinter sehe ich die Angst der Männer vor ihren Müttern, in dem die Männer eine Riege unter sich bilden und die Frauen nicht rein lassen. Auch in der Bezahlung bei gleichwertiger Ausbildung sind sie noch benachteiligt. In den Augen konservativer Männer gehören sie ja hinter den eigenen Herd. Für eine mangelnde Empathie spricht, dass die Schere zwischen Armen und Reichen immer mehr auseinander klafft. Natürlich ist es ein Recht für die eigenen Einkünfte zu sorgen, aber nicht auf Kosten der anderen.
Ein Mädchen, das sich gegen die Beschneidung wehrt, muß eine Höllenangst bekommen, denn es wehrt sich nicht nur gegen die Mütter und Väter, sondern gegen die ganze Macht der Kultur. Weite Teile der Kultur müssen also umdenken, die Sache anders sehen und publik machen. Dem stehen die Aggressionen entgegen. In Kamerun war das Brustbügeln sogar in der einheimischen Bevölkerung weitgehend unbekannt, bis es publik wurde. Aber noch heute werden in Westeuropa lebende afrikanisch stämmige Mädchen in die Heimat zur Beschneidung gebracht, oder Großmütter kommen trotz der strafrechtlichen Verfolgung her zur Beschneidung, Ebenso muss bei uns ein Umdenkungsprozess stattfinden, damit das Auseinanderklaffen der Schere zwischen arm und reich sich vermindert und sozialer Ausgleich geschaffen wird. Aber die Reichen schotten sich in Parallelgesellschaften ab, den französischen Banlieues ähnlich, um unter sich zu bleiben, keinen herein zu lassen und keinerlei Empathie zu empfinden. So wird weiterer Konfliktstoff geschaffen.
Ich kam auf die Idee dieses Artikels durch ein Interview mit Christa Stolle, der Geschäftsführerin von Terre de Femme, unter dem Titel „Viele Frauen haben keine Chance“ in der Frankfurter Rundschau vom 10.12.15. Von Zwangsmästen und Brustbügeln hatte ich bisher nichts gewusst. Über die Beschneidung habe ich schon einen Artikel geschrieben.