Doppelt hält besser – Die Berlinale Retrospektive zeigt in „Play it again…! – Das Beste aus 60 Jahre Berlinale“

„Wie umstritten Filme von gestern zu Klassikern von heute wurden", will der Britische Filmkritiker David Thomson, der das Retrospektive-Programm auswählte, zeigen. Zu den vorab angekündigten Höhepunkten der Retrospektive zählen Alf Sjöbergs Strindberg-Verfilmung „Fräulein Julie" (Schweden 1950), „Ikiru" von Akira Kurosawa (Japan 1952) und „Il Christo prohibito – Der verbotene Christus" (1951. Auch Werke, die noch heute provozieren, will die Retrospektive „Play it again…!" zeigen. Zu letzten zählt Nagisa Oshimas Erotikdrama „Im Reich der Sinne". Nach der Uraufführung auf der Berlinale kam es 1976 zum Eklat, als die Staatsanwaltschaft die Filmkopie beschlagnahmte. Gegen Ulrich Gregor, Leiter des Forums Junger Film, wurde Anklage wegen „Verbreitung von Pornographie" erhoben. Ob die Retrospektive ihrem Jubiläums-Motto gerecht wird, wird sich daran zeigen, welche Fassung aufgeführt wird. Im Kino und Fernsehen läuft „Im Reich der Sinne" meist in zensierter Version.

Drei Jahre später kam es zum nächsten Affront, als Michael Ciminos Vietnamkriegsdrama „The Deer Hunter" („Die durch die Hölle gehen", USA 1978) trotz der Proteste der sowjetischen Delegation aufgeführt wurde. Die Mehrheit der sozialistischen Staaten zog ihre Wettbewerbsbeiträge zurück, ihre Vertreter reisten ab. Die Berlinale war um einige Delegierte ärmer und einen Skandal reicher. Jean-Luc Goddards 1960 auf der Berlinale aufgeführter „A bout de Souffe" („Außer Atem") hat nichts von seiner irritierenden Wirkung eingebüßt. Von der betont beiläufigen Handlung bis zu den offensiven Schlußworten gelang es Goddard in seinem Schlüsselwerk, Kunst und Affront geschickt zu verbinden. Der Klassiker der Nouvelle Vouge ist eine der cineastischen Entdeckungen, welche 2010 in der Retrospektive „Play it again..!" wieder aufgeführt werden.

Rainer Rother, Leiter der Retrospektive und Künstlerischer Direktor der Deutschen Kinemathek, welche eine Reihe von Sonderveranstaltungen zur Retrospektive „Play it again…!" beisteuert, bezeichnet Filme wie die Ciminos und Oshimas als besonders bedeutend, die „die Festivalroutine aus politischen oder ästhetischen Gründen aus den Fugen geraten ließen." Zu den selten gezeigten Glanzstücken, welche die Retrospektive alljährlich aus internationalen Filmarchiven zum Vorschein bringt, zählen 2010 das melancholische Drama „In der weißen Stadt" (Schweiz/ Polen 1982) des französischen Regisseurs Alain Tanner, Werner Herzogs Spielfilmdebüt „Lebenszeichen" (BRD 1967/68) und Zhang Yimous „Rotes Kornfeld". Der asiatische Film war 1988 der erste Beitrag aus der Volksrepublik China, welcher mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet wurde. Einen Goldenen Bären nahm auch Paul Thomas Andersons „Magnolia" (USA 1999) mit nach Hause. Das starlastige Melodram wirkt angesichts der Klassiker wie ein Fremdkörper in Programm der Retrospektive. Besser paßte Patrice Chéreaus Gewinner des Goldenen Bären des Folgejahres. „Intimacy" verursachte aufgrund seiner freizügigen Sexualszenen heftige Diskussionen bis hin zu Vorwürfen der Pornographie.

Das Beste und das Skandalöseste der vergangenen sechzig Festivaljahre will die Retrospektive „Play it again…!" ein zweites Mal ins Rampenlicht rücken. Nun ist aus dem Boulevardjournalismus, der dank Stars und Sternchen am Roten Teppich eine Sternstunde erlebt (um auf dem Kalauerniveau des Retrospektive-Titels zu bleiben), bekannt, dass das „Skandalöseste" oder was dazu hochstilisiert wird, nicht immer das Beste ist, im Gegenteil. Schundiges und Kurioses hat auf Filmfestivals seinen unverrückbaren Platz inne und kann durchaus eines amüsanten Rückblicks wert sein – doch leider lässt sich manches nicht so leicht zum Leben erwecken wie ein Filmklassiker. Jayne Mansfields opulentes Dekollete etwa, welches in den Sechzigern ihr Kleid und die Presse kaum fassen konnten. „Busen-Berlinale" hieß es 1961, als das Unwort des Jahres leider noch nicht gewählt wurde. Leider entsann sich die Klatschpresse vierundzwanzig Jahre später nicht der komisch-katastrophalen Wortkreation. 2005 zog die chinesische Schauspielerin Bai Ling mit Mansfields Methode – kleinerer Busen, dafür größerer Ausschnitt – die Blicke der Boulevardjournalisten zur Jury-Bank. Wahrhaft anstandslos war hingegen der Versuch der „Bild"-Zeitung Sibel Kekilli, die für ihre Darstellung in „Gegen die Wand" den Silbernen Bären gewann, mit einstigen pornografischen Filmen zu diskreditieren. Nackte Haut, ob auf der Leinwand oder außerhalb, ist ein Garant für Skandal-Rufe. Auch das ist Tradition in 60 Jahren Berlinale.

Zählt das Filmprogramm der Retrospektive traditionell zum Anspruchsvollsten, was die Berlinale zu bieten hat, ist beim Namen das Gegenteil der Fall. Schon im letzten Jahr tendierte die Retrospektive in Namensdingen mit „Bigger than Life" gefährlich ins Beliebige. Werden einst – vielleicht zum Goldenen Jubiläum – die unglücklichsten Retrospektive-Motti gewählt, ist „Play it again…!" hoher Anwärter auf den ersten Platz. Auf welchen Film sollen die Worte anspielen? Ingrid Bergmann seufzt in „Rick`s Café" nur „Play it, Sam.", – „Spiel`s, Sam." Will man in „Casablanca" bleiben, umschriebe „As Time goes by" das Retrospektive-Programm weit besser. Wagten die Kuratoren zur Abwechslung einen deutschsprachigen Titel, würde aus dem melancholischen Liebeslied eher „Kinder, wie die Zeit vergeht". Die Lösung liegt so nahe: „Außer Atem". Deutscher Titel (Sprachbewusstsein), französischer Film (Internationalität), Skandalfilm, Kultregisseur. Und: außer Atem vor Empörung (Skandal) und Ehrfurcht (Kunstfilm), außer Atem vom Hin- und Herrennen zwischen Pressevorstellungen (Journalisten), außer Atmen vom Drängeln nach Karten (Festivalbesucher), außer Atmen vor Organisationsstreß (Festivalleitung), außer Atmen vor Termindruck (Stars), außer Atmen, weil die Kälte ihn gefrieren läßt (alle). Vielleicht ist der schlechte Titel des guten Programms auf eigene Art Teil der Festivaltradition, der zur 60. Berlinale nicht fehlen soll – um zukünftig ein kurioses Relikt zu bleiben. Mach`s noch einmal – nur besser.

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Berlinale Retrospektive: Play it again…! – 60 Jahre Berlinale

Orte: CinemaxX Potsdamer Platz, Zeughauskino

Sonderveranstaltungsreihe: Deutsche Kinemathek

Buch zur Retrospektive: zweisprachige Ausgabe (deutsch/ englisch)/ Verlag: Bertz + Fischer

www.berlinale.de

www.deutsche-kinemathek.de

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