Die Jury, die die Debütantin, die im Gespräch so menschenerfahren und nicht überfahrbar wirkt, daß es nur so eine Freude ist, hat für die Aufnahme dieses Romans in die kurze Liste zum deutschen Buchpreis festgestellt: „ ’Dinge, die wir heute sagten’ ist ein kunstvoll erzählter Roman aus der nordostdeutschen Provinz. Schon seit je nicht im Zentrum der Welt gelegen, gerät Bresekow nach den gesellschaftlichen Umbrüchen der Wiedervereinigung noch weiter ins Abseits. Der Roman, der vom Weggehen, vom Wiederkommen und Nichtweggehen-Können handelt, erzählt vielstimmig ein halbes Jahrhundert Geschichte vom Rand der Welt. Wie in jedem guten Heimatroman bleibt in diesem außerordentlichen Debüt kein Raum für Idylle, denn die Zeit heilt nicht nur Wunden, sondern reißt alte wieder auf.“
Einmal abgesehen davon, daß wir diese Zeilen für eine außerordentlich gelungene Einschätzung halten, sind wir durch die Metapher von Zeit und Wunden auch mitten im Geschehen. Anna Hanske ist im vorpommerschen Bresekow gestorben, weshalb ihre in den Westen geflüchtete und inzwischen in Irland verheiratete Tochter Ingrid zur Beerdigung kommt. Nicht gerne und das erfährt man alles aus ihren Gedanken, aus dem Mahlwerk ihres Gehirns, das vom Gedächtnis gespeist wiederkäut und ausspuckt. Denn das literarische Konstrukt dieses Romans ist das Verzichten auf einen allwissenden Erzähler, der die Fäden in der Hand hält und ordnet und somit uns, dem Leser, eine Übersicht gewährt. Die muß man in diesem Buch schon selber suchen, wobei es nicht schwer gemacht wird, wenn denn einzelnen Kapiteln Namen von Personen überschrieben sind, die gerade sprechen. Zu wem? Zu sich selbst, zu uns?
Wir haben versucht, auch ohne die Kapitelnamen im Geschehen zu bleiben, also diese abgeklebt und ohne Kompaß gelesen. Das geht nicht auf. Nur bei Tochter Ingrid hört man die Person sofort heraus, denn sie ist die einzige, die von sich und ihren Empfindungen und Worten als „Du“ spricht. „’Da fahren wir also in Deine Heimat’ sagt Michael auf Deutsch und grinst.“ Das ist der irische Ehemann. „Du sagst: ’Das ist nicht meine Heimat’ und da lacht er dich aus.“ (9) Das fällt dem Leser sofort auf und er interpretiert in der Regel diesen Umgang mit sich selbst im beschreibenden Du richtig als die Distanz, die Ingrid aufbaut zu ihrem Heimatdorf, aus dem sie floh, aber wohl auch zu sich selbst, denn das, was in Bresekow damals geschah, hat mit ihrem eigenen Selbst zu tun.
Dagegen sind Romy und Ella junge Dinger, die den Leser spüren lassen, daß nix los ist in ihrem Kaff und sie zwischen Langeweile und Hoffnung, daß endlich was passiert, hin und herschwanken. Buchstäblich. Der endlose Strom von Banalem, der einem entgegenströmt, ist manchmal schwer auszuhalten, wobei sich zwei Sachverhalte kreuzen: Eigentlich interessieren einen die Ahnungen, Gefühle, Interpretationen. Ängste und die Anderen-für-alles-verantwortlich-Machen dieser Landpomeranzen wenig, andererseits gelingt es Judith Zander, dies so kunstvoll, nämlich schlicht, wiederzugeben, daß man immer wieder hingerissen ist von der Art und Weise, wie sie erzählt. Die Autorin bringt manches DDRlerische, von wir nicht wissen, ob es auf ihrem Mist gewachsen ist oder übernommen wurde. Auf jeden Fall hat das „Auf die Elpe Gehen“ etwas. Wir hielten es erst einmal für einen Bach, es ist aber die Abkürzung für LPG und meint deren heruntergekommene Stätte im Dorf, was Zentrum der Dorfjugend wird, die keine andere Bleibe hat.
Aber auch die beiden weiteren Generationen, die eine Rolle spielen, werden eher durch ihr Schweigen, denn ihre Persönlichkeit interessant und da nun wieder ergibt sich ein weiteres Schreib- und Wahrnehmungsproblem. Eigentlich ist die Dorfbevölkerung verschlossen und nicht mitteilsam. Aber in ihren Köpfen rumort es unaufhörlich, gegenüber fast jedem wird ein Verdacht geschöpft und Überwachung der anderen wäre ja auch nicht gerade der Ausweis eines in sich ruhenden Gemeindemitglieds, aber vor allem sie räsonieren, sie plaudern, sie wachen unaufhörlich und wir sind den Wortkaskaden und dem Mahlstrom ausgeliefert.
Gut, auch noch ein Wort zum Titel „Dinge, die wir heute sagten“ und dem ersten Kapitel, das John&Paul überschrieben ist, sich wiederholt und jeweils Zeilen aus Liedern der Beatles in ein holpriges und hölzernes Deutsch wiedergibt, wie die Autorin ausführt, mit Absicht, denn das seien die Worte, mit denen sich Deutsche, die nicht Anglisten sind, die Beatlestexte übersetzten. So wurde aus „Things we said today“ das sperrige „Dinge, die wir heute sagten“. Die Beatles haben im Roman die Funktion, deren unterschiedliche Bedeutung für die Generationen darzustellen. Nichts so schlimm, wie bejahrte Leute, die sich noch im Alter daran goutieren, wie aufmüpfig sie einmal waren und den von ihnen entfachten Kult um die Beatles als ihren Jugendkult fürs Leben tradieren. „Eklig“ und „heuchlerisch“ für die Jugend von heute.
Die Handlung des Romans, doch es gibt eine, ergibt sich aus den vielen einzelnen Rede- und Denkbeiträgen, wobei Handlung und deren Reflektion in Erinnerungen oder Interpretationen lustig durcheinandergehen, wie das halt so ist, beim Vor sich hin Denken und innerem Monologisieren. Das ist erlaubt. Die Vielzahl der Stimmen erhält immer wieder – tatsächlich wie im griechischen Drama der Chor– eine feste Größe durch den Auftritt der Gemeinde. Das sind kurze Haltepunkte, die aufgeworfene Fragen und Sachverhalte der Dorfbevölkerung festhalten und das durchgehend auf Plattdeutsch. Das mußten wir laut vor uns hinsprechen, um den Sinn zu erfassen, denn beim Lesen hatten wir große Schwierigkeiten, besser, verstanden null.
So resümieren wir für uns selbst, daß es – nach Uwe Johnson – verdienstvoll ist, diese Landschaft und ihre Bewohner wieder einmal literarisch zu würdigen, und stellen fest, daß Judith Zander dies erzählerisch fulminant gelingt. Allein, wir konnten nicht das Leseinteressen entwickeln, weshalb die Autorin doch wohl geschrieben hatte. Das nehmen wir auf unsere Kappe.