Die wirkliche Nakba

Jede Seite hat ihre eigene Version dieses folgenschweren Ereignisses.
Nach der arabisch-palästinensischen Version kamen die Juden von nirgendwoher, und ein friedliebendes Volk wurde angegriffen und aus seinem Land vertrieben. 
Nach der zionistischen Version akzeptierten die Juden den Kompromiss-Teilungsplan der UN, aber die Araber wiesen ihn zurück und begannen einen blutigen Krieg, währenddessen sie von den arabischen Staaten überredet wurden, ihre Häuser zu verlassen, um dann mit den siegreichen arabischen Armeen zurückzukehren.
Beide Versionen sind äußerster Unsinn – eine Mischung von Propaganda, Legende und verdrängten Schuldgefühlen.
Während des Krieges war ich Mitglied einer mobilen Kommando-Einheit, und diese war auf der ganzen Südfront aktiv. Ich war ein Augenzeuge von dem, was dort geschah.
Ich schrieb während des Krieges ein Buch („In den Feldern der Philister“) und eines direkt nach dem Krieg („Die andere Seite der Münze“). Sie erschienen zusammen 1948 auf Deutsch unter dem Titel „Die andere Seite der Münze“. Ich schrieb auch in der ersten Hälfte meiner Autobiographie („Optimistisch“); das im letzten Jahr auf Hebräisch erschien. Ich werde zu beschreiben  versuchen, was wirklich geschah. „1948 – eine Soldatengeschichte“.
Zu allererst müssen wir uns davor hüten, 1948 mit den Augen von 2015 zu sehen. So schwierig es auch sein mag, so müssen wir versuchen, uns in die Realität von damals zu versetzen. Anders sind wir nicht in der Lage, das zu verstehen, was tatsächlich geschah.
Der Krieg von 1948 war einmalig. Er war eine Folge historischer Ereignisse, die nirgendwo eine Parallele hat. Ohne seinen historischen, psychologischen, militärischen und politischen Hintergrund zu berücksichtigen, ist es unmöglich, zu verstehen, was damals geschah. Weder die Auslöschung der einheimischen Amerikaner durch die weißen Siedler noch die verschiedenen kolonialen Genozide ähneln dem.
Die unmittelbare Ursache war die UN-Resolution vom November 1947: die Teilung Palästinas. Sie wurde von den Arabern sofort abgewiesen, die die Juden als fremde Eindringliche ansahen. Die jüdische Seite akzeptierte diese Teilung. Aber David Ben Gurion rühmte sich später damit, er hätte  nicht die Absicht gehabt, mit den Grenzen von 1947 zufrieden zu sein. Als der Krieg Ende 1947 begann, lebten im britisch beherrschten Palästina über 1 250 000 Araber und 635 000 Juden. Sie lebten in getrennten Nachbarschaften in den Städten (Jerusalem, Tel Aviv. Jafa, Haifa) und in benachbarten Dörfern.
Der Krieg von 1948/49 bestand tatsächlich aus zwei Kriegen, die ineinander über-gingen. Vom Dezember 47 bis Mai 48 war es ein Krieg zwischen den Arabern und der jüdischen Bevölkerung innerhalb Palästinas, von Mai bis zum Waffenstillstand anfangs 1949 war der 2. Krieg. Es war ein Krieg zwischen der neuen israelischen Armee und den Armeen der arabischen Länder – hauptsächlich der jordanischen, ägyptischen, syrischen und irakischen.
In der ersten und entscheidenden Phase war die palästinensische Seite in zahlreichen Dörfern klar die überlegene Seite. Die arabischen Dörfer beherrschten fast alle Landstraßen; die Juden konnten sich nur in eilig gepanzerten Bussen und mit bewaffneten Wächtern bewegen.
Doch die jüdische Seite hatte eine vereinigte Führung unter Ben Gurion und schuf eine vereinigte, disziplinierte, gut organisierte militärische Truppe, während die Palästinenser nicht in der Lage waren, eine vereinigte Führung und Armee aufzubauen. Dies zeigte sich als entscheidend.
Auf beiden Seiten gab es keinen wirklichen Unterschied zwischen den Kämpfern und den Zivilisten. Die arabischen Dorfbewohner besaßen Gewehre und Pistolen und eilten zur Szene, wenn eine vorbeifahrende jüdische Fahrzeugkolonne angegriffen werden sollte. Die meisten Juden waren in der Haganah organisiert, der bewaffneten Untergrund-Verteidigungskraft. Die beiden „terroristischen“ Organisationen, der Irgun und die Stern-Gruppe, vereinigten sich mit der gemeinsamen Kraft, der Haganah.
Auf beiden Seiten wusste man, dass dies ein existentieller Kampf war.
Auf der jüdischen Seite war es die unmittelbare Aufgabe, die arabischen Dörfer an den Landstraßen zu vertreiben. Das war der Beginn der Nakba.
Von Anfang an warfen Gräueltaten böse Schatten auf beide Seiten. Wir sahen Araber, die in Jerusalem mit abgetrennten Köpfen unserer Kameraden marschierten. Es gab auch Gräueltaten, die von unserer Seite begangen wurden, die ihren Höhepunkt in dem berühmten Deir Yassin–Massaker fanden, einem Jerusalem benachbarten Ort. Es wurde von der Irgun-Stern-Gruppe angegriffen. Viele seiner männlichen Bewohner wurden massakriert, mit vielen Frauen marschierte man durch das jüdische Jerusalem. Vorfälle wie diese schufen von Anfang an die Atmosphäre des existentiellen Kampfes.
Durchweg war dies ein total ethnischer Kampf zwischen beiden Seiten, von denen jede Seite behauptete, das ganze Land sei ausschließliche seine Heimat und leugnete die Behauptung der anderen Seite. Lange bevor der Ausdruck „Ethnische Säuberung“ aufkam, geschah dies während des ganzen Krieges. Nur wenige Araber blieben in den von Juden eroberten Gebieten (im Etzion Block, in der Altstadt von Jerusalem) Überhaupt keine Juden blieben in den wenigen von arabischer Seite eroberten Stadtteilen.
Als der Mai näher kam und die Erwartung, dass sich arabische Armeen in den Konflikt einmischen würden, versuchte die jüdische Seite, eine Zone zu schaffen, aus der alle nichtjüdischen Bewohner entfernt wurden.
Man muss verstehen, dass die arabischen Flüchtlinge nicht „das Land verließen“. Als ihre Dörfer beschossen wurden – gewöhnlich bei Nacht – nahmen sie ihre Familien mit sich und flohen ins nächste Dorf, das dann unter Feuer kam und so weiter. Am Ende fanden sie zwischen sich und ihrem Heim eine Waffenstillstandslinie.
Der palästinensische Exodus war kein gerader Prozess: Er veränderte sich von Monat zu Monat, von Ort zu Ort und von Situation zu Situation.
Zum Beispiel: die Bevölkerung von Lod war gezwungen zu fliehen, da wahllos auf sie geschossen wurde. Als Safed erobert wurde – gemäß dem Kommandeur: Wir trieben sie nicht aus – öffneten wir nur einen Korridor für sie, damit sie fliehen konnten.
Bevor Nazareth besetzt wurde, signierten die örtlichen Führer ein Dokument der Übergabe, und der Stadtbevölkerung wurde Leben und Besitz garantiert. Der jüdische Kommandeur, ein kanadischer Offizier mit Namen Dunkelman wurde dann mündlich der Befehl gegeben, sie zu vertreiben. Er weigerte sich und verlangte einen schriftlichen Befehl, der niemals ankam. Darum ist Nazareth noch heute eine arabische Stadt.
Als Jafa erobert wurde, flohen die meisten Einwohner übers Meer nach Gaza. Diejenigen die nach der Übergabe blieben, wurden auf Lastwagen geladen und in Richtung Gaza geschickt.
Während der große Teil der Vertreibung aus militärischer Notwendigkeit geschah, gab es sicher einen unbewussten, halb bewussten oder bewussten Wunsch, die arabische Bevölkerung loszuwerden. Es lag „im Blut“ der zionistischen Bewegung.- noch bevor Theodor Herzl überhaupt an Palästina dachte. Tatsächlich schlug Theodor Herzl – als er den Entwurf seines bahnbrechenden Buches „Der Judenstaat“ schrieb – den jüdischen Staat in Patagonien (Argentinien) zu gründen und forderte auf, alle einheimischen Bewohner zu vertreiben.
Nachdem die arabischen Armeen sich im Mai den Krieg eingemischt hatten, wurden die Ägypter nur 22 km vor Tel Aviv gestoppt. Mit der UN wurde eine ein-Monat lange Feuerpause verabredet, und von der israelischen Seite wurde diese dazu benützt, sich selbst mit schweren Waffen (Artillerie, Panzern, Militärflotte, Kampfflieger) auszurüsten – ja, die von Stalin für sie in der Tschechei geliefert wurde( sie wurden im 2. Weltkrieg für die Wehrmacht produziert und einige Gewehre hatten noch Hakenkreuze eingeritzt. In der sehr schweren Schlacht vom Juli begann die israelische Seite zu gewinnen. Von da an wurde die militärische Entscheidung getroffen, die arabische Bevölkerung zu vertrieben. Die Einheiten bekamen den Befehl, auf jeden Araber zu schießen, der versuchte, in sein Heimatdorf zurückzukehren.
Der entscheidende Moment kam zum Ende des Krieges, als entschieden wurde, den Flüchtlingen die Rückkehr nicht zu erlauben. Es gab keine offizielle Entscheidung. Die Idee kam nicht einmal auf, als die jüdischen Flüchtlinge aus Europa, die Überlebenden des Holocaust, das Land überfluteten und die Orte füllten, die von den Arabern verlassen worden waren.
Die zionistische Führung war sich sicher, dass innerhalb einer oder zweier Generationen die Flüchtlinge vergessen sein werden. Das war ein Irrtum
Es sollte daran erinnert werden, dass all dies nur wenige Jahre nach der Massenvertreibung der Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei und den baltischen Staaten geschah, was als normal akzeptiert wurde.
Wie eine griechische Tragödie wurde die Nakba durch den Charakter all seiner Teilnehmer, Täter und Opfer aufbereitet. Jede Lösung des „Problems“ müsste mit einer bedingungslosen Entschuldigung von Israel für seinen Teil der Schaffung der Nakba beginnen.
Die praktische Lösung muss wenigstens eine symbolische Rückkehr einer Ansiedlung der Mehrheit von Flüchtlingen auf israelischem Gebiet sein, eine Mehrheit von Flüchtlingen in den Staat Palästina, wenn er entsteht, und eine großzügige Kompensation an jene, die sich entscheiden, dort zu bleiben, wo sie sind oder woandershin auszuwandern.
Anmerkungen:
Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Unter www.uri-avnery.de erfolgte die Erstübersetzung am 08.06.2015. Alle Rechte beim Autor.
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