„Als erstes sind es die Texte, die uns die Mystiker und Mystikerinnen hinterlassen haben. Aber wir wissen es: Die Mystiker sind in einem Dilemma. Sie haben, vereinfacht gesagt, zwar etwas erlebt, aber dieses Erlebnis in verständliche Worte zu fassen und für andere Menschen nachvollziehbar zu machen oder es gar zur Darstellung zu bringen, ist nicht möglich ”¦
Bei der Auswahl der Fallbeispiele haben wir darauf geachtet, berühmte, aber auch weniger berühmte Mystiker, die durch ihr besonderes Leben oder ihre außergewöhnlichen spirituellen Erlebnisse und ihre Texte herausragen, in die Ausstellung zu integrieren, den Anteil an Frauen hochzuhalten sowie auch zwei lokal mit der Schweiz verbundene Mystiker zu zeigen”¦“
So die Kuratoren. In ihrem Katalog stellen sie Visionäre und Mystiker verschiedener Zeiten und Religions-Affinitäten vor, vom Christentum mit Meister Eckhart, Heinrich Seuse oder Jacob Böhme repräsentiert, führen sie den Bogen über das Judentum, den Islam, den Hinduismus und Buddhismus bis zum Daosismus. Letztere spirituelle Strömung hat den chinesischen Poeten Li Bai (701-762) hervorgebracht, der im Katalog als „der betrunkene Unsterbliche“ porträtiert ist. Und tatsächlich, der erstaunte Leser erfährt im Kurzporträt des noch heute bekannten Dichters von seiner ausschweifenden Trunksucht, der ihr gar zum Opfer gefallen sein soll: „Beim nächtlichen Heimweg von einem feuchtfröhlichen Fest soll er von der Spiegelung des Vollmondes in einem See so fasziniert gewesen sein, dass er ins Wasser sprang, um den Mond zu umarmen – und dabei ertrank.“
Li Bai wird bis heute im ’Tempel der Unsterblichen des Wassers` in Taiwan verehrt. Ein anderer Mystiker, der den Abendländern nahegebracht wird, ist der Sufi-Märtyrer, Apotheker und Arzt Farid ad-Din`Attar (um 1145-1221), der mit seinen ’Vogelgesprächen` eine allegorische Dichtung zur sufischen Gott-Erkenntnis hinterließ.
Die vierzig Proträtierten lebten in Japan, China, Tibet und Indien, waren Sufis im Iran oder wirkten in der Wüste Ägyptens. Sie strebten nach dem Absoluten und suchten die Vereinigung mit dem Göttlichen. All dies nicht erst im Jenseits, sondern im jetzigen, irdischen Dasein. Wie sie dies zu erreichen strebten, ob durch Tanz, Gesang Meditation oder durch Gebete, ist sehr schön an den Ausstellungsobjekten, die farbig abgebildet sind, zu erahnen. Hier spreizt ein achthundert Jahre altes Tonfigürchen die Beine im heiligen Tanz, dort muten kabbalistische Zeichnungen wie ein Ufo-Bahnhof an, Franz von Assisi erlebt den sechsflügeligen Seraphim auf einem Kirchenfresko und ein Johannes lehnt sich vertrauensvoll an Jesus, beide geschnitzt und vergoldet.
Fazit: Sorgsam ausgestattet, gründlich recherchiert – eine wahre Bereicherung der eigenen Bibliothek oder das richtige Weihnachtsgeschenk für anspruchsvolle Verwandte mit Lesezeit!
Ausstellungspublikation Museum Rietberg, Zürich (23. September 2011 bis 15. Januar 2012)
Mystik, Die Sehnsucht nach dem Absoluten, hrsg. von Albert Lutz, Museum Rietberg Zürich, Scheidegger &Spiess, 327 Seiten, September 2011, 45,- €