So beginnt ein Montag im Juni an der Küste des Mittelmeers. Annas Eltern haben die Kinder von der Schule befreit und verbringen die Sommermonate am Meer, sie betreiben einen kleinen Imbiss. Anna hat bei ihrer Geburt zu wenig Sauerstoff bekommen, deshalb gehorchen ihre Beine ihr nicht, überhaupt ist sie ziemlich klein und zurückgeblieben. Körperlich. Denn ihr Kopf funktioniert einwandfrei. An diesem Montag besteigt sie ein Fahrrad, lässt ihren kleinen Bruder auf dem Gepäckträger Platz nehmen und rast dahin.
„Vor lauter Lachen schwoll ihr Bauch an, und die kleinen Hände, die ihn umklammerten, ließen los, das Fahrrad fing an zu schwanken, der Gepäckträger war leer und es krachte.“
Tom fällt auf den Kopf und der Himmel stürzt in die Tiefe, nichts wird mehr so sein wie vorher. Der neue Roman von Mira Magen beginnt im gewohnt beschwingten Sprachrausch, mit einer bitter-herben Familiengeschichte. Eine Floskel – Die Zeit wird es zeigen, allgemein gedankenlos benutzt, gelangt hier zu verzweifelter Bedeutung. Wird Anna je ein normales Leben führen können, wird Tom wieder gesund? Ist die Gottlosigkeit der Eltern Schuld am Unglück ihrer Kinder? Die Zeit wird es zeigen”¦
Die Eltern, Cheli und Mike, sind animalische Durchwurschtler, sie lieben und laben sich, nehmen das Leben, wie es kommt und finden immer einen Ausweg. Ohne Gott. Ihre drei Kinder Anna, Naomi und Tom sind sehr verschieden. Anna hat Chelis dichte Wimpern und verkümmerte Beine, Naomi ist so schön, dass sie den Sommer über in eine Siedlung gesteckt werden muss – wo sie bestens verhüllt bleibt – und der kleine Tom, bis eben noch gesund, liegt nun im Koma. Mike und Cheli besuchen ihn täglich, während Edisso, ein stiller schwarzer Junge, den Imbiss für sie betreibt. Am Strand flaniert die füllige Schönheit Tehila vorbei und beginnt sich für Mike und dessen Familie zu interessieren. Sara, Chelis Schwester, lebt in der Siedlung und produziert gottesfürchtige Kinder und Gedanken.
Damit ist der Figurenhorizont dieses Romans umschrieben. Wie Mira Magén die kleine Schar leben, lachen und leiden lässt, ist grandios – und wieder einmal sensibel und poetisch von Mirjam Pressler ins Deutsche übertragen. Dieses Buch entwickelt einen Sog, der auf dem Strand der Levante landet, sanft ausrieselt und uns mit kullern lassen möchte, als Körnchen unter den Füßen Annas, Mikes, Chelis”¦
Wie nebenbei behandelt Mira Magén den israelisch-palästinensischen Konflikt ab, indem ihre Figuren darüber hadern, diskutieren. Lösung nicht in Sicht – die Zeit wird es zeigen. Die Autorin erzählt in wechselnder Perspektive jeweils ein Stück des Sommers der einzelnen Protagonisten, um sich dann wieder Anna zuzuwenden, die schwer an ihrem Geheimnis trägt. Hineinkriechen, mitleben möchte man angesichts des Humors, mit dem Mira Magen ihre kleine Schar agieren, zweifeln und träumen lässt. Ein Kosmos an Fragen und Betrachtungen, in denen man aufgehen möchte, ewig menschlich, ewig grüblerisch – und faszinierend!
Wenn Mike am Ende des Romans an einem Septembermorgen zum Auto geht, wirft er einen Blick auf das Meer. „Vor so viel Schönheit muss der Mensch sich einfach verneigen, dachte er. Du schaust es hundertmal am Tag an, und dann kommt plötzlich ein Moment, in dem du es wirklich siehst und voller Bewunderung stehen bleibst. Klarer und durchsichtiger als die Kristallvasen deiner Mutter, ohne den Hauch eines Windes. Würdest du jetzt ein Streichholz anzünden, würde das Flämmchen senkrecht stehen bleiben, ohne zu zittern oder zu flackern. Und du fragst dich, wie die Segelboote jetzt zum Strand zurückkommen und wie die Fischer heimkehren.“
Mira Magén, Die Zeit wird es zeigen, Roman, aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler, 396 S., dtv München, 14, 90 €