Dabei hatte er sich erst nach seiner Fußballkarriere geoutet, entging so den anzügliche Bemerkungen in der Umkleide und den Anfeindungen vor allem der gegnerischen Fans. Während seiner aktiven Fußballerzeit war ihm heftig davon abgeraten worden. Aber leise Stimmen wiesen darauf hin, dass dies keineswegs bedeute, dass die Homophobie besiegt sei. Ausgrenzung, Diskriminierung und Benachteiligung würden weiterhin eine Rolle spielen. Die Hype weist sogar auf den latenten Charakter der Antischwulentendenzen hin. Ansonsten wäre nicht so viel Aufhebens gemacht worden, und das Outen wäre gegenstandslos.
Die Homophobie ist in fast allen Kulturen seit Jahrhunderten tief verankert, wesentlich stärker als bei uns, und die Homosexuellen werden verfolgt. Sie ist sozusagen ins Kulturgut tief eingegraben. In Deutschland wurden die Homosexuellen im Dritten Reich umgebracht, und vor ca. 20 Jahren wurde erst der Paragraph 175 abgeschafft. Naturgemäß ist die Homophobie bei uns auf der unteren Ebene, der un – und vorbewussten Ebene, oder auch offen noch weit verbreitet. Es gilt ein Männlichkeitskult, überhöhter Kult, da andere sexuelle Ausrichtungen ausgegrenzt sind. Homosexuelle werden mit Schwäche und Unmännlichkeit in Verbindung gebracht und als Schwuchteln und Tunten stigmatisiert, obwohl das in seltenen Fällen so ist. Bei Massenveranstaltungen wie ein Fußballspiel wird diese untere Ebene des Verhaltens aktualisiert.
Als Reaktion auf die Diskriminierungen und im Kampf für die Gleichstellung zeigen die Homosexuellen zum Beispiel beim Christopher-Street-Day ein schrilles Verhalten, sozusagen ein Kontrapunkt und Protest gegen die Anpassung. Häufig wechselnder Geschlechtsverkehr, Darkrooms und Klappen sind bei ihnen verbreitet, so dass sie weiteren Vorschub zur Sündenbockfunktion und -strategie für die homophoben Tendenzen unterliegen. Andererseits ist dies ein Zeichen ihres gesteigerten Selbstbewusstseins, des Aufrechterhaltens ihrer Würde und ihrer inzwischen entwickelten Subkultur und, dass sie in unserer Kultur nicht mehr um ihr Leben fürchten müssen. Die Gesellschaft hat sich oberflächlich verändert im Sinne der Aufgeschlossenheit gegenüber einer andersartigen sexuellen Ausrichtung.
Doch eins vermisste ich im mir zugänglichen Blätterwald, nämlich den Hinweis, dass die Diskriminierungen und Anfeindungen zuerst einmal eine Schande der Anfeindenden selbst sind, und auf sie zurück fallen. Schließlich kommt das aus dem Mund der Vorwerfenden, und gibt somit zuallererst Zeugnis über ihre eigene Einstellung, ihre Schwulenfeindlichkeit. Eine Geste verdeutlicht diesen Umstand, der Zeigefinger zeigt offen nach vorne zum anderen, und drei Finger zeigen unter der Hand verdeckt und unsichtbar zurück. Je heftiger er mit dem Finger auf die Schwulen zeigt, desto nötiger hat er es. Nötig – warum? Daß er nichts damit zu tun haben möchte, weil er soviel damit zu tun hat, soviel Angst vor den Schwulen hat, der Homophobie. Dies Auslassen deute ich als latente Homophobie, indem Schwule nicht gefördert werden, sich zu wehren. Die Homosexuellen sollen sozusagen die Diskriminierungen widerstandslos hinnehmen. Wie kommt es zur Homophobie?
Schließlich kommt der Mensch wahrscheinlich ohne eine festgelegte sexuelle Ausrichtung auf die Welt. Diese ist ein Kulturprodukt und zwar in ihrer Eindeutigkeit, weil viele Menschen sonst in Verwirrung geraten. Die Suche nach Eindeutigkeit und Klarheit sind eine Folge von Traumatisierungen, die häufig schon über Generationen geht. Ich erinnere nur, dass vor über 100 Jahren in den meist gelesenen pädagogischen Büchern des Orthopäden Schreber, der auch die Schrebergärten kreiert hat, die Erziehung darauf ausgerichtet war, der Wille des Kindes ist um jeden Preis zu brechen. Bedingungsloser, ja vorauseilender Gehorsam und damit der Verlust der Würde waren gefragt. Das setzt sich untergründig bis heute fort.
Weil die Kinder den Eltern glauben, das ist ihr Schicksal, entladen sich die Wut und der Haß auf die Erzieher auf Außenseitergruppen. Da die Sexualität zentraler Bestandteil des Menschen ist und der Fortpflanzung dient, ist sie besonders dem Diktat der Eindeutigkeit ausgesetzt. Bei jedem Menschen sind beide Seiten der Sexualität angelegt, aber eine Seite muß daraufhin verleugnet werden. Diese Seite wird aber besonders gefürchtet und an den anderen, die sie ausleben, stark bekämpft, der Homophobie. Man könnte auch Neid und Missgunst dahinter vermuten, dass die Schwulen etwas ausleben, was sich die anderen nicht gönnen und wovor sie Angst haben. Der Homophobe fürchtet also seine eigene Homosexualität. Ich erinnere mich, dass ein Patient mir bekannte, früher wäre er über die Schwulen hergezogen, jetzt müsse er zu seiner Schande gestehen, er habe selber homosexuelle Fantasien. Er konnte sich inzwischen die Fantasien eingestehen, da er überwiegend nicht schwul war.
Auf der anderen Seite wird ein Männlichkeitskult gepflegt, der alles andere als Schwäche, Weichei und Weibischsein auslegt und verfolgt. Normale menschliche Eigenschaften wie Schwäche, Weichsein, auch Verständnis für den anderen, Weinen, wenn etwas trauriges passiert ist, Schmerzen, Verzweiflung, Unentschlossenheit und Ambivalenz fallen diesem Ideal zum Opfer. Härte, Entscheidungsfreudigkeit, Klarheit und Eindeutigkeit haben höchste Priorität.
Jungen, die etwa gelegentlich Mädchenkleider anziehen, werden gehänselt und ausgelacht. Die Bezeichnung „Muttersöhnchen“ wird gefürchtet. Später lieben es Transvestiten, in Frauenkleidern aufzutreten, und Transsexuelle fühlen sich im falschen Körper, vertreten eine weibliche Identität, und lassen sich umoperieren. Lesben, weibliche Homosexuelle, die beim Anerkennungskampf unspektakulär im Kielwasser der Schwulen schwimmen, sind ja keine Männer. Es geht ja um den Männlichkeitskult, und da stellen Frauen keine so große Gefährdung dar.
Über die Hintergründe dieses Männlichkeitskults mache ich mir weiterhin so meine Gedanken. In einer Gesellschaft, in der die Männer um der Karriere willen ihre Zeit am Arbeitsplatz verbringen, sind die Kinder völlig den Müttern ausgeliefert, evtl. sind diese noch alleinerziehend, – ich möchte das nicht verallgemeinern, denn alleinerziehende Mütter können durchaus differenzíert und anerkennend erziehen – machen sich deren Weltbild zu eigen und sehen die Welt mit den Augen ihrer Mütter. Oft stimmen die Väter mit den Müttern überein, meiden so Dissonanzen und Streitigkeiten. Die typische Konstellation ist, nach außen vertreten die Männer die Familie, im Innenbereich herrschen die Mütter. Dann ist das Bild, Imago, der tadellose Ruf das Wichtigste, alles andere wird von Schmach, Schande und Feindseligkeit begleitet.
Wenn nun die Prägung von starken Verurteilungen, Ängsten, Angstmache und sogar von Misshandlungen begleitet ist, identifizieren sie sich umso mehr mit dem Aggressor, weil nämlich negative Erfahrungen wesentlich stärker gespeichert werden als positive. Sie sind von ihren Müttern geprägt, also Muttersöhnchen, und müssen in aller Heftigkeit diese Tatsche weit von sich weisen. Die Übernahme der verurteilenden Mütter erzeugt Aggressionen und, da diese sich in der eigenen Person befindet, sie mit ihr identifiziert sind, richten sie sich gegen die eigene Person. Es entstehen Autoaggressionen. Diese können sich u.a. als Depressionen, Angstzustände oder Schmerzzustände äußern.
Ich möchte eine Lanze für die Homophoben brechen. Schließlich können sie nichts dafür, dass sie seit Generationen in der Kindheit so sehr durch Verurteilungen bekämpft wurden, diesen Kampf verinnerlicht haben, und ihr Inneres nach außen bringen müssen. Sie sind ein Opfer ihrer Prägungen. Leider sind später andere ihre Opfer. Denn schließlich muss der Mensch zum Schutz vor der Autoaggression seine Aggressionen irgendwohin nach außen unterbringen. In unserer jüngeren Geschichte spricht der Holocaust eine deutliche Sprache. Dazu eignen sich bestimmte Gruppen hervorragend wie zum Beispiel die Homosexuellen und zwar in aller Eindeutigkeit, dass es nichts zu rütteln und deuteln gibt.