Im Ernst müßte man einen Artikel über die Persönlichkeit der Frida Kahlo vor einem Ausstellungsbericht abdrucken, um auf all die Halbwahrheiten und Ganzfalschheiten einzugehen, die den Blick auf die Malerin bis heute verstellen. Stattdessen behaupten wir, daß alle vier oben angesprochenen Gruppen in der mit 60 Gemälden und rund 90 Zeichnungen bestückten Ausstellung in Berlin Frida Kahlo auf hervorragende Weise als Künstlerin erleben werden, über die zwar schon viel gesagt, aber von der immer noch nicht alles gezeigt wurde. Das Erstaunliche ist nämlich, daß die in acht Abteilungen gegliederte Schau sehr viele, noch nie präsentierte Bilder aufweist. Das ist die eigentliche Überraschung, denn Frida-Kahlo-Ausstellungen gab es in den vergangenen Jahren immer wieder. Die letzte große 2007 zu ihrem echten hundertsten Geburtstag in Mexico Ciudad mit 411 000 Besuchern und in London 2005 mit europäischem Rekord.
Zu den falschen Zuschreibungen gegen die sich Frida wehrte, gehört auch die von André Breton, dem wir das Zitat als Titel verdanken, der sie für den Surrealismus okkupierte, was sie vehement von sich wies, weil ihre Kunst eine eigenständige, aufgrund ihrer Lebenssituation dem Schicksal abgetrotzte sei. Darum fehlen in keiner Lebensbeschreibung die beiden allerwesentlichsten Ereignisse: ihr Straßenbahnunfall im Alter von 17 Jahren, wo eine Eisenstange ihren Unterleib durchbohrte, mit der Folge von mehr als 22 Operationen, keine Möglichkeit, die gewünschten Kinder auszutragen, labile Gesundheit generell. Das andere eruptive Ereignis war ihr Kennen- und Liebenlernen des damals als Muralisten berühmtesten mexikanischen Malers Diego Rivera, den sie 1929 heiratete, von dem sie 1939 geschieden wurde und den sie 1940 erneut heiratete und mit ihm zusammenlebte, bis sie am 13. Juli 1954 starb.
Was das Erstaunlichste an der schönen und umfangreichen Ausstellung – von ihren rund 150 Ölgemälden sind 60 in Berlin – ist, ist in unseren Augen ihre künstlerische Eingebundenheit in ihre Zeit: sprich, in den Stil der Neuen Sachlichkeit, der so überwältigend noch nie zu sehen war. Es bleibt alles richtig, was über ihre Besonderheiten: ihre Porträts, ihre Verwurzelungen, ihre Traumvisionen und das Mexikanische daran galt. Denn das bezieht sich auf den Inhalt ihrer Sujets; aber erst hier in Berlin erkennt man, wie sehr die stilistischen Merkmale von der Neuen Sachlichkeit bestimmt sind, wie sie gestochen die Dame in Weiß 1929 porträtiert, die Natasha Gelman 1943 wiedergibt, Mrs. Jean Wright 1931 vorführt, den Ingenieur Gómez durch seine Ganzglasbrille 1944 starren läßt.
Auf die stilistische Nähe zur Neuen Sachlichkeit legen wir deshalb soviel Wert, weil die ’surrealistischen’ Anteile ihrer Bilder bekannt sind, die auch in Berlin hängen, wobei ihre Selbstporträts, die im Oeuvre 55 ausmachen, ihre Wirkung auch hier nicht verfehlen: eine Frau, die stolz und mit Distanz ihren Betrachtern direkt in die Augen blickt, skeptisch, meist leicht in der Neige, im Siebenachtelporträt, selten ohne Affen, Katzen, ohne mexikanischen Schmuck und ebensolche Tracht, mit und ohne Tränen, eine gefaßte und kein bißchen dramatisierte Frau. Eine inszenierte und stilisierte, das schon. Und das ist das Mindeste, was man einer Künstlerin zugestehen muß, die sich durch die Malerei als Autodidaktin aus ihrem Unfallmartyrium herausmalte.
Man entgeht ihrer Biographie einfach nicht, auch wenn man sich bemüht. Denn ihre Sujets sind direkte Repliken auf ihr Leben. Wie sie mit Ehemann Diego in die USA geht, – wo beide doch in Mexiko Kommunisten bleiben, auch wenn sie die Partei verlassen, weshalb Diego auch den versprochenen Auftrag nicht erhält, weil er Lenin mit ins Bild malen wollte – und dort dann den Kapitalismus malt, über den sie im rosa Kleid schwebt; wie sie mehrere Fehlgeburten erleidet, was sie in Bildern voller Schmerzen und der direkten Thematisierung von Geburt und Tod festhält, aber auch mit Puppen auf dem Bett; wie ihr Verletzung der Wirbelsäule, die Gipskorsette und Stahlgerüste ihr immer wieder Anlaß sind, diese zu bemalen oder sie in ihre Bilder hinein zu malen.
Und dann sieht man auf einmal das Selbstbildnis von 1933 „very ugly“ und erlebt ein deja-vu. Das kennt man doch. Zwar nicht wie hier als Fresko, wobei nur das Gesicht und die Andeutung der Halspartie mit der Kette noch erhalten sind, aber man kennt die Bildfindung von einer anderen Künstlerin, von Paula Modersohn-Becker, die sich in dieser Art mehrfach malte – weil sie im Louvre die meist in Enkaustik hergestellten christlichen antiken Mumienporträts von Fayum gesehen und bewundert hatte. Ein weiter Schritt von der Modersohn-Becker zu Frida Kahlo. Aber hier ganz nah, vermittelt über die ersten Jahrhunderte in Ägypten. Das ist schon erstaunlich und wird bestätigt durch das nicht mehr ’häßliche’, perfekt gemalte „Selbstbildnis mit Halskette“ von 1933, wo einem die antike Anverwandlung ins Gesicht springt.
Noch kein Wort zu den vegetativen, saft- und blütenstrotzenden Gemälden mit dem aufgeschnittenen Fruchtfleisch, den Melonen und traurigen Kokosnußgesichtern. Frida war auch ein Schalk, neben der immer wieder hingemalten Selbstironie – pathetisch finden wir ihre Selbstdarstellung nie! – hatte sie einen guten Schuß Ironie, ja leichte Satire für ihre Umwelt parat. Und noch etwas: ein Teil der Bilder, die in der Ausstellung gegen Schluß folgen, da wundert man sich, wenn man diese Bilder als Abdrucke kennt, wie klein sie sind: der „Stammbaum“, „Selbstbildnis mit Bildnis Dr. Farill“, „Ohne Hoffnung“, „Ein paar kleine Dolchstiche“, „Selbstbildnis auf der Grenze zwischen Mexiko und den USA“, klein im Format, groß in der Bedeutung und in der Wirkung.
Auf die umfangreichen Zeichnungen und auf den eigenen, von ihrer Großnichte Christina Kahlo, Fotografin, zusammengestellten Ausstellungsteil der Fotografien müssen wir ein andermal eingehen. Das Fotografieren – Vater Wilhelm, dann mexikanisch: Guillermo Kahlo war Fotograf – war so familieneigen, wie das Fotografiertwerden, worüber wir heute froh sind, denn mit den Abbildungen der Frida Kahlo wird uns gleichzeitig eine ganze Welt, eine ganze Zeit lebendig. Diese Ausstellung anzusehen lohnt.
Info: Es lohnt auch das Angebot der deutschen Bundesbahn für verbilligte Sonderfahrten an einem Tag, wobei wir nur nie die Beschränkung auf 300 km verstehen. Die sollte doch dann für weitere Anfahrten mit zwei Tagen ausgestattet sein.
Ausstellung: bis 9. August 2010. Anschließend ab 1. September 2010 im Kunstforum Wien.
Katalog: Frida Kahlo. Retrospektive, hrsg. von Martin-Gropius-Bau und Bank Austria Kunstforum 2010. Ausdrücklich steht auf der Titelseite, die all die Autorenbeiträge aufführt, zuvorderst: Ausstellungskonzept von Helga Prignitz-Poda. Sie hat auch den Hauptessay zu Frida Kahlo verfaßt, in dem sie klarstellt, daß die Eindeutigkeit der Bilder – Tränen gleich Schmerz, Natur gleich Leben, abgeschnittene Haar und Männeranzug als Antwort auf die Untreue des Diego – zwar bestehen bleiben, daß aber in den Bildern es ebenso einen versteckten Symbolismus gibt, den zu entschlüsseln spannend ist, der aber manches unentdeckt läßt. Frida Kahlo wäre damit nicht nur auf einer Ebene des ’hidden symbolism’ in spätgotischen Gemälden zu ’lesen`, sondern auch mit der des Zeitgenossen Max Beckmann. Helga Prignitz ist zudem diejenige, die das erste Buch, das über Frida Kahlo geschrieben wurde (1977 von der mexikanischen kommunistischen Kunsthistorikerin Raquel Tibol) ins Deutsche gebracht hat, eine verlegerische Tat des Verlags der Neuen Kritik 1980, was somit das erste Werk über Frida Kahlo im Westen wurde. Schön im Katalog auch die sehr persönlichen Worte von Ingried Brugger, der Leiterin des Kunstforums in Wien, der zweiten Station der Werkreise.
Wir verweisen auf das sehr umfangreiche Begleitprogramm, einschließlich Kinderprogramm, auch außerhalb des Museums; bitte auf den Webseiten verfolgen.
Die große Bedeutung, die der mexikanische Staat dieser Ausstellung zumißt, zeigt sich darin, daß der mexikanische Präsident am 3. Mai um 15 Uhr die Ausstellung besucht, die deshalb für Besucher geschlossen wird.
Internet: www.gropiusbau.de, www.cervantes.de, www.babylonberlin.de, www.iai.spk-berlin.de