Die Kreuzfahrer und die Zionisten

Cäsarea
Cäsarea war einst ein wichtiger Hafen mit Festung der Kreuzfahrer. Quelle: Pixabay

Tel Aviv, Israel (Weltexpress). Vor ein paar Tagen war ich in Cäsarea, saß in einem Restaurant und schaute hinaus aufs Meer. Die Sonnenstrahlen tanzten auf den kleinen Wellen, die misteriösen Ruinen der alten Stadt schauten geheimnisvoll aus. Es war heiß, aber nicht zu heiß, und ich dachte über die Kreuzfahrer nach.

Cäsarea wurde von König Herodes vor etwa 2000 Jahren gebaut und nach seinem römischen Herren, Augustus Cäsar, genannt. Es wurde unter den Kreuzfahrern wieder eine bedeutende Stadt, die von ihnen befestigt wurde. Diese Befestigungen haben den Ort jetzt in eine touristische Attraktion verwandelt.

Einige Jahre in meinem Leben war ich von den Kreuzfahrern wie besessen. Es begann während des Unabhängigkeit-Krieges 1948, als ich zufällig ein Buch über die Kreuzfahrer las und entdeckte, dass sie dieselben Orte gegenüber dem Gazastreifen besetzten, die mein Bataillon besetzt hielt. Die Kreuzfahrer brauchten mehrere Jahrzehnte, um den Streifen zu erobern, der damals sich bis Ashkalon erstreckte. Heute ist er noch immer in muslimischer Hand.

Nach dem Krieg las ich alles, was ich über die Kreuzfahrer bekommen konnte. Je mehr ich las, umso mehr fesselte es mich. So sehr, dass ich etwas tat, was ich nie vorher oder nachher tat. Ich schrieb einen Brief an den Autor des maßgeblichsten Buches über diese Periode, den britischen Historiker Steven Runciman.

Zu meiner Überraschung erhielt ich umgehend eine handgeschriebene Antwort, in der er mich einlädt, ihn zu besuchen, wenn ich einmal wieder in London sein werde. Zufällig war ich ein paar Wochen später in London und rief ihn an. Er bestand darauf, dass ich sofort zu ihm komme.

Wie fast jeder, der gegen die Briten in Palästina gekämpft hatte, war ich ein Anglophiler. Runciman, ein typisch britischer Aristokrat mit all den kuriosen Eigenheiten war sehr sympathisch.

Wir sprachen stundenlang mit einander und setzten das Gespräch fort, als meine Frau und ich ihn später in einer alten schottischen Festung an der Grenze mit England besuchten. Rachel, die noch anglophiler als ich war, verliebte sich beinahe in ihn.

Worüber wir redeten, war ein Thema, das ich von Anfang unserer ersten Begegnung an, aufbrachte. „Als Sie Ihr Buch schrieben, haben Sie da je über die Ähnlichkeiten zwischen den Kreuzfahrern und den modernen Zionisten gedacht?“

Runciman antwortete: „Tatsächlich hatte ich kaum an etwas anderes gedacht. Ich wollte dem Buch den Untertitel geben: Ein Wegweiser für die Zionisten, wie man es nicht tun sollte“. Und nach einem kurzen Lachen, „aber meine jüdischen Freunde rieten mir davon ab.“

In der Tat ist es in Israel fast ein Tabu, über die Kreuzfahrer zu reden. Wir haben ein paar Experten, aber im Allgemeinen wird das Thema vermieden. Ich kann mich nicht erinnern, während der paar Jahre, die ich (hier) in die Schule ging, etwas über die Kreuzfahrer gehört zu haben.

Das ist nicht so erstaunlich, wie es klingen mag. Die jüdische Geschichte ist ethnozentrisch, nicht geographisch. Sie beginnt mit unserem (legendären) Vorfahren Abraham und seinen Gesprächen mit Gott und fährt fort bis zur Niederlage der Bar-Kochba-Rebellion gegen die Römer im Jahre 136 A.D.

Von da an verlässt unsere Geschichte Palästina und tanzt um die Welt und konzentriert sich auf jüdische Ereignisse bis zum Jahr 1882 als die ersten Vor-Zionisten einige Siedlungen im ottomanischen Palästina aufbauten. In der ganzen Zeit dazwischen war Palästina leer – nichts geschah hier.

Das ist es, was israelische Kinder heute in der Schule lernen.

Tatsächlich geschahen aber während jener 1746 Jahre eine Menge Dinge, mehr als in vielen andern Ländern. Das römische, byzantinische, arabische, ottomanische und britische Empire folgte bis 1948 auf einander. Die Königreiche der Kreuzfahrer waren selbst ein bedeutendes Kapitel.

Die meisten Israelis würden überrascht sein, zu erfahren, dass der Aufenthalt der Kreuzfahrer in Palästina fast 200 Jahre dauerte – viel länger als die zionistische Geschichte bis heute. Es war keine kurze, vorübergehende Episode.

Die Ähnlichkeit zwischen den Kreuzfahrern und den Zionisten fällt einem sofort auf. Beide Bewegungen brachten eine große Anzahl von Leuten aus Europa ins Heilige Land. (Während des ersten halben Jahrhunderts seiner Existenz brachten die Zionisten fast nur europäische Juden nach Palästina) Da beide aus dem Westen kamen, wurden beide von den lokalen Muslimen als westliche Eindringlinge bezeichnet.

Weder die Kreuzfahrer noch die Zionisten hatten während ihrer ganzen Existenz einen einzigen Tag des Friedens. Das ständige Gefühl der militärischen Gefahr gestaltete ihre ganze Geschichte, ihre Kultur und ihren Charakter.

Die Kreuzfahrer hatten einige kurzzeitige Waffenpausen, besonders mit Syrien; aber auch wir haben jetzt zwei „Friedensabkommen“ – mit Jordanien und Ägypten. Ohne ein wirkliches Gefühl des Friedens und der Freundschaft mit diesen Völkern erscheinen unsre Abkommen eher einem Waffenstillstand als einem Frieden.

Damals wurde das Los der Kreuzfahrer durch die Tatsache leichter, dass die Araber ständig unter sich selbst zerstritten waren, genau wie heute. Bis der große Salah-a-Din (Saladin), ein Kurde, auf der Bildfläche erschien, die Araber einigte und die Kreuzfahrer in der Schlacht bei den Hörnern von Hattin, nahe Tiberias, besiegte. Danach gruppierten sich die Kreuzfahrer neu und blieben für weitere vier Generationen in Palästina.

Die Kreuzfahrer wie die Zionisten sahen sich selbst – ganz bewusst – als Brückenköpfe des Westens in einer fremden und antagonistischen Region. Die Kreuzfahrer kamen natürlich hierher als die Armee des Westens, um den Tempelberg und die Grabeskirche in Jerusalem zurückzugewinnen. Theodor Herzl, der Gründer des modernen Zionismus schrieb in seinem Buch Der Judenstaat, die Bibel des Zionismus, dass wir in Palästina als Außenposten der (westlichen) Kultur gegen die (muslimische) Barbarei dienen werden.

Der Tempelberg bleibt übrigens das Zentrum der täglichen Schlacht. Erst in dieser Woche wurde es zwei extrem-rechten Knesset-Mitgliedern von den israelischen Behörden erlaubt, den Bereich des Tempelberges zu betreten – zum Glück ohne jüdisch-muslimische Aufstände anzuregen wie kürzlich bei solchen Gelegenheiten.

Letzte Woche hat auch unsere Justiz-Ministerin (die ich „den Teufel in Gestalt einer schönen Frau“ nannte) das Israelische Oberste Gericht angeklagt, die Menschenrechte über die „Werte des Zionismus“ – was immer sie auch sein mögen – zu stellen. Sie hat schon eine Gesetzesvorlage eingeführt, die klar machte, dass jene „zionistischen Werte“ juristisch höher stehen als die „demokratischen Werte“.

Die Ähnlichkeit – der Kreuzfahrer und der Zionisten – ist am größten, wenn es um Frieden geht.

Für die Kreuzfahrer war Frieden natürlich undenkbar. Ihr ganzes Unternehmen gründete sich auf das Ziel, Jerusalem und das ganze Heilige Land („Gott will es!“) vom Islam, dem Todfeind, zu befreien. Dies schließt a priori jeden Frieden mit Gottes Feinden aus.

Die Zionisten reden endlos über Frieden. Es vergeht keine Woche, dass Benjamin Netanjahu nicht eine berührende Erklärung über seine Sehnsucht nach Frieden abgibt. Aber jetzt ist absolut klar, dass er nicht im Traum einen Zoll Land westlich des Jordan aufgibt. Vor nur wenigen Tagen bestätigte er noch einmal öffentlich, dass er keine einzige jüdische Siedlung auf der Westbank „entwurzeln“ lassen wird. Nach internationalem Gesetz ist jede dieser Siedlungen illegal.

Natürlich gibt es riesige Unterschiede zwischen den beiden historischen Bewegungen – so riesige Unterschiede wie zwischen dem 11. und dem 21. Jahrhundert.

Kann man sich die Kreuzritter mit Atombomben vorstellen? Saladin mit Panzern? Die Reise der Johanniter aus Clairmont nach Jaffa mit Flugzeug?

In den Zeiten der Kreuzfahrer war die Idee der modernen „Nation“ noch nicht geboren. Die Ritter waren Franzosen, Engländer oder Deutsche, aber vor allem waren sie Christen. Der Zionismus entstand aus dem Willen, die Juden der Welt in einer Nation – im modernen Verständnis des Terminus – zu versammeln.

Wer waren diese Juden? Im Europa des 19. Jahrhundert, einem Kontinent neuer Nationen, waren sie eine unnatürliche Ausnahme und deshalb gehasst und gefürchtet. Aber sie waren in Wirklichkeit ein unverändertes Relikt des byzantinischen Reiches, in dem sich die reine Identität aller Gemeinschaften auf die Religion gründete. Diese ethnisch-religiösen Gemeinschaften waren autonom und standen unter der Jurisdiktion ihrer religiösen Führer.

Ein Jude in Alexandria konnte eine Jüdin aus Antiochien heiraten aber nicht die christliche Frau aus der Nachbarschaft. Eine römisch-katholische Frau in Damaskus konnte einen römisch-katholischen Mann aus Konstantinopel heiraten, aber nicht einen griechisch-orthodoxen Mann aus derselben Straße. Diese rechtliche Struktur besteht heute noch in vielen ehemaligen byzantinischen Ländern einschließlich – man würde es nie glauben – Israel.

Aber nach allen zeitlichen Unterschieden ist der Vergleich noch gültig und gibt viel Stoff zum Nachdenken – besonders, wenn man an der Küste von Cäsarea, mit der imposanten Kreuzfahrer-Mauer hinter sich sitzt, nur wenige Kilometer vom Hafen von Atlit entfernt, wo die letzten Kreuzfahrer buchstäblich ins Meer geworfen wurden, als alles vor genau 726 Jahren zu einem Ende kam.

Um Runciman frei zu übersetzen, hoffe ich, dass wir rechtzeitig lernen, nicht wie sie zu sein.

Anmerkungen:

Vorstehender Beitrag von Uri Avnery wurde vom Englischen ins Deutsche von Ellen Rohlfs übersetzt. Unter www.uri-avnery.de erfolgte am 2.9.2017 die Erstveröffentlichung. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Alle Rechte beim Autor.

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