Die Konstellation der drapierten Viktualien im Video war dem Stillleben mit Quitte, Kohl, Melone und Gurke des spanischen Malers Juan Sánchez Cotán von 1600 nachempfunden. Der Moment des Still-Lebens wird bei Gersht zerstört und in Zeitlupe aufgelöst, voyeuristisch verlängert. Als würde eine Fotografie lebendig werden und sich selbst in Frage stellen.
Ähnliches mag der Leser des neuen Romans Mathias ´ Gatzas empfinden. Konträr gegenwärtiger Tendenzen kündigt der Herausgeber eingangs an, seinen Text unentgeltlich auf seiner Homepage zur Verfügung zu stellen. Nichts weniger als das Bild des Barock wolle der Verfasser, die gesamte Bildgeschichte und die Kunstgeschichte überhaupt verändern! Der namenlos bleibende ewige Kunstgeschichtsstudent erforscht in der Rahmenhandlung das Leben des Barockmalers Silvius Schwarz, von dessen Existenz er zunehmend überzeugt ist. Auch davon, dass sein Idol den ersten Fotoapparat erfunden hat. Die Beschreibung seiner Jahre währenden Spurensuche nach Artefakten und Zeugnissen ist ein Schelmenroman an sich, noch überhöht durch die von ihm aufgefundenen Druckbögen eines stummen Setzers, der im November 1673 in sechs Nächten das Leben des Malers Silvius Schwarz nieder-setzte und den stilistisch wiederum gänzlich abweichenden skurrilen Briefroman, der die Korrespondenz zwischen Sophie von Schlosser und dem soeben aus Amsterdam zurückgekehrten Maler Schwarz wiedergibt. Während nur eines halben Jahre in diesem 1673 kulminiert der Roman und das aufregende Leben des S. Schwarz. Wir springen munter mit dem Autor durch die Jahreszeiten und Jahrhunderte, lernen einiges über Optik und Stillleben, den sächsischen Hof, arbeitslose Kunsthistoriker und die Vergänglichkeit.
Höchst genussvoll und intelligent entführt Mathias Gatza den Leser in seine Welten, mit grundverschiedenen Tempi und Temperamenten. Herrlich die ausschweifenden Briefe des Malers, die anzüglichen des jungen Mädchens! Die Andeutungen und Zweideutigkeiten, das Universale in Lernen, Frage und Staunen!
„”¦Ich dachte, ich sei tot. Ich sah ein himmlisches Stillleben, ein ockerrot leuchtender Granatapfel hing an einer Bastschnur in einer Fensteröffnung, die in einen schwarzen Raum führte. Ich kannte das Bild von Sánchez Cotán, hatte es mehrfach kopiert. Warum nur die Kopie am Ende des Lebens, ist auch der Tod eine weitere Kopie? Ich hörte den Knall, höre ihn immer noch, sah die Bleikugel mit einem knisternden Zischen von rechts in das Bild fliegen, in einer unerhörten Verlangsamung durchschlug sie, einem beispiellosen gestreckten Moment lang, die Schale und riss den Granat von innen auseinander, rote Spritzer, es brauchte Ewigkeiten, bis sie den Fensterpfosten erreichte. Die Schnur schwang, von ihrer Last befreit, mit gesuchter Langsamkeit, wie der Strick eines Gehenkten in einer leichten Brise”¦. Tausende Bilder für die Zerstörung, Dann das Schweigen der Welt. War das der letzte Gedanke in meinem Leben, ein Bild? Nein, es war der Schock, der die Affekte so aufrüttelte, dass die Zeit sich zusammenzog.“
Gatza gelingt es tatsächlich, das Anhalten der Zeit, ihr Zusammenziehen zu erzählen. Einen Moment gerinnen zu lassen. Zwei junge Menschen, die sich lieben, ohne sich einzuengen, die gierig sind. Nach Wissen, Lachen und Lust. Wie viel moderner erscheinen die Figuren des Barocks als Gatzas heutiges Ensemble angestaubter Langweiler. Führte der späte Debütant und doch betriebsweise Gatza in seinem Erstling „Der Schatten der Tiere“ seine Leser amüsant über vereiste Geschichtenstränge, dürfen wir nunmehr wie in einem Computerspiel in rasender Geschwindigkeit durch gläserne Paläste schlittern fallen fliegen. Mit den Gedanken der verrückt gescheiten Liebenden auf Reisen.
Aber das sollten Sie gefälligst selbst erkunden, auch wie das turbulente und mehr und mehr an einen Krimi gemahnende Geschehen zu Ende gespielt wird, verschweigen wir vornehm. Aus einem Sommerbrief der darbenden Sophie sei letztendlich zitiert, um Ihnen dieses Buch zur Sommerzeit ans Herz zu legen:
„Abstraktionen führen in der Liebe zu nichts. Ist es denn so schwer, fällt Ihnen denn ein Floh aus der Perücke, wenn Sie mich nur ein klein wenig mehr küssten, geht Ihnen das gegen den Strich, finden Sie Küssen blöd, oder was? …“
Schauen Sie sich bitte das Cover einmal genauer an!
Mathias Gatza, Der Augentäuscher, Roman, 383 S., Graf Verlag München, 2012, 19, 99 €