Die Idee zur Ausstellung hatte die Direktorin des Belvedere, Agnes Husslein-Arco, selbst. Sie fand es angebracht, Künstler aus dem ehemaligen Osmanischen Reich (1299- 1923), der Türkei, aus Bulgarien, Griechenland, Rumänien und Österreich daraufhin zu orientieren, daß diese sich unter spezifischem Aspekt mit der wechselhaften Geschichte von Okkupation und Befreiung, von Expansion und Zurückdrängung künstlerisch beschäftigen, als mit Kunst reflektieren auf die kulturelle Melange, die aus den politischen Verhältnissen erwuchs, die kulturelle Aneignung und Distanz zu nennen, wir uns angewöhnt haben. Die Ausstellung selbst zeigt einem, wie angebracht diese Idee wirklich war, denn man schaut mit nicht nachlassendem, sondern mit sich steigerndem Interesse dem zu, was elf Künstler als ihren Reflex in ihrer Geschichtskonstruktion beisteuerten.
Erst allerdings muß der Ausstellungstitel geklärt werden. Natürlich dachten wir bei „tanzimat“ an irgendwelche Tanzgeschehnisse. Völlig daneben. Denn dieser Begriff ist ein türkischer, der so etwas wie Neuordnung oder eine veränderte Anordnung meint. Es gibt in der türkischen Geschichte sogar eine ganze „Tanzimat-Zeit“, das war im 19. Jahrhundert eine Reformphase von 1838 bis 1876, in der eine Gleichstellung von Muslimen und Nichtmuslimen erlassen wurde und viele Modernisierungen und zivilrechtlichenStrukturen in Gesellschaft, Industrie und Verkehr eingeführt wurden, die den ersten Modernisierungsschub leisteten, was später die Jungtürken aufgriffen. Die Künstler nun wurden zwar angesprochen und auf den Bogen verwiesen, der von Prinz Eugen bis heute reicht, aber erstens konnten sie sich auch gegen eine Beteiligung aussprechen und zweitens waren sie im Inhalt und der Form ihres künstlerischen Reflexes völlig frei. Und gerade in dieser so unterschiedlichen Reaktionsweise und den teilweise abstrus erscheinenden und dann einsichtig werdenden thematischen Differenzierungen, liegt der große Reiz dieser Ausstellung, die auch zeigt, wie breit gefächert die Anliegen sind, die alle aus einer geschichtlichen Wurzel rühren: daß der Mensch dem Menschen kein Wolf sei, sondern heutige Gesellschaften überall selbstbestimmtes Leben ermöglichen sollten.
Vangelis Vlahos aus Griechenland, 1971 geboren, verblüfft einen erst einmal mit vielen kleinen Fotografien, die eine neben die andere gehängt, ein Sammelsurium an Informationen bieten von einem kleinbürgerlichen Leben in Griechenland, das eindeutig durch die Militärdiktatur geprägt wurde. Erst nach längerem Betrachten wird einem verständlich, daß hier einer sein eigenes Großwerden dokumentiert, wie nämlich sich in ihm ein Geschichtsbild konstituierte. Auffällig, die vielfachen Verweise auf die Sowjetunion in Form von heroischen Sportlern oder Weltraumfahrern, die in diesem Kontext der massiven griechischen Militärs wie hilfesuchend den großen Bruder anrufen. Denkt man länger darüber nach, dann kommen einem diese kleinkarierten Bilder vor wie der Ausweis eines, der sagt: „Ich bin niemand“. Hier weiß einer, weder woher er kommt, noch wohin er geht. Ein geschichtsloses Niemandsland präsentiert der Künstler dem Betrachter, das Gegenteil von Selbstvergewisserung, keine ausreichende Identität und zwischen Orient und Westen und Osten eingepfercht. Das sieht alles nach der Sehnsucht nach einem Befreiungsschlag aus. Aber da ist keiner in Sicht.
Wirkmächtig dagegen wirken die großaufragenden Pferde, die da einfach herumstehen, einen sofort an etwas erinnern, was auch Wirklichkeit wird. Wir sehen die Quadriga, die die Venezianer auf ihrem doch angeblich christlichen Kreuzzug nach Jerusalem im christlichen Ostrom, Byzanz, raubten, nachdem sie die ganze prächtige Stadt verwüstet hatten und die Schätze plünderten. Heute hauptsächlich in der Markuskirche in Venedig zu bestaunen. Da macht sich also dieser Hüseyin Bahri Alptekin 2005 einen Reim drauf, in dem er Abgüsse aus Polyurethan herstellen ließ – superleicht, aber ganz nach echter Bronze aussehend – und weil der Blick auf die Pferde, die da im Augarten ins schöne verschneite Grün, also ins Schneeweiße schauen, etwas absolut Surreales gewinnt, aber auch etwas Wehmütiges, Dekadentes, denn ihre Zeit ist vorbei, die der Pferde, die immer noch so tun, als ob sie gleich davongaloppierten.
Nicht für Wien wurde dies Imitat erschaffen, sondern für die Türkei, denn der Künstler brachte so das einzig erhaltenen Viergespann der Antike zurück nach Istanbul. Dort sind sie auch richtig, wenngleich einem vorkommt, daß ihr natürlicher Bestimmungsort ab jetzt der Augarten sei. Ein geschichtliches Amalgam. Gülsün Karamustafa trägt nicht Eulen nach Athen, aber immerhin die österreichische Architektin Margarete Schütte-Lihotzky nach Wien. Denn diese – als Erfinderin der Frankfurter Küche hierzulande sehr bekannt – ist der Nazis wegen mit ihrem Mann 1938 nach Istanbul gegangen, wie sehr viele Juden und auch Architekten wie Bruno Taut u.a., wo sie an den Akademien der bildenden Künste unterrichteten oder auch Bauten errrichteten. Paul Hindemith und Bela Bartok waren auch dort. Lange war die Türkei ein geliebtes Exil, bis Jude zu sein, auch dort gefährlich wurde. Frau Karamustafa läßt mit den Brettern, die herumliegen, Schulen bauen.
Völlig ungerecht, daß Carola Dertnig mit dem hinreißenden „Das Mottenfraß-Etablissement Zacherl in Wien“, Esra Ersen mit „Karussell", Franz Kapfer mit „Trophäen“, Marko Lulic mit seinen Wortspielereien, die Geschichte schreiben, Victor Man mit „In the Eyes of a Mute“, Füsun Onurs „Jeder Stuhl“, von Kamen Stoyanov „Die Eiserne Kirche von Istanbul“ und die „Fehlstellen“ von Simon Wachsmuth hier nur genannt werden. Anschauen müssen Sie die schon selber und sollten es tun. Wien ist immer eine Reise wert, aber derzeit gibt es in der Kombination von geschichtlicher Vergangenheit, die in der Wirklichkeit und in der Kunst geschichtliche Gegenwart konstituiert, besonders Spannendes in Wien zu sehen. Im Belvedere und im Augarten besonders, aber auch überhaupt.
* * *
Ausstellungen: bis 6. Juni 2010 im Unteren Belvedere, bis zum 16. Mai im Augarten.
Am Donnerstag, 25. März 2010 um 19 Uhr : Simon Karavagna im Gespräch mit dem bulgarischen Schriftsteller Dimitre Dinev – mit Musik!
Katalog: Prinz Eugen. Feldherr, Philosoph und Kunstfreund, hrsg. von Agnes Husslein-Arco und Marie-Louise von Plessen, Hirmer Verlag 2010. Zur prachtvollen Ausstellung ein prächtiger Katalog! Deren sechs Kapitel machen auch die Gliederung des Katalogs aus. In der Einleitung stellt Kuratorin Marie-Louise von Plessen die besondere Stellung des sich in Kriegen auszeichnenden Prinzen als europäischer Kulturheros heraus, wobei den Abbildungen: Gemälde, Gegenstände, Stiche, Fotografien viel Raum gegeben ist und ein edler Anstrich im Hochglanzdruck dazu. Wer sich nach der Ausstellung mit dem Geschauten weiterbeschäftigen will, für den ist dieser Katalog unschätzbar, denn in den schriftlichen Teilen erfährt er Vertiefendes und die Bilder evozieren die Ausstellung. Noch besser ist es, sich den Katalog zuvor zu erwerben und in dem Vorher und Nachher seine eigenen Erkenntnisse auszubauen.
Katalog: tanzimat, hrsg. von Agnes Husslein-Arco, Belvedere, Wien 2010; man sollte sich nicht nur die Ausstellung anschauen, sondern auch dringend den Katalog mitnehmen. In ihm erfolgt auch die weit differenziertere Sachklärung zur Tanzimatzeit und weiteren gesellschaftlichen Schlüsselbegriffen. Vor allem kommen die Künstler zu Wort, deren Werke abgebildet sind und von anderen interpretiert werden. Ihre Biographien, die wesentlich für ihre Arbeiten sind, werden dargestellt. Wir finden daran immer spannend, dies im Nachhinein zu lesen, denn bei ersten Kontakten mit Künstlern und Werk wollen wir gerne alleine sein und uns unsere eigenen Gedanken machen. Bei der Besichtigung allerdings brachte es sehr viel, daß die Kuratorin Eva Maria Stadler
Tipp: Gute Dienste leistete uns erneut das kleinen Städte-Notizbuch „Wien“ von Moleskine, das wir schon für den früheren Besuch nutzten und wo wir jetzt sofort die selbst notierten Adressen, Telefonnummern und Hinweise finden, die für uns in Wien wichtig wurden. Auch die Stadtpläne und U- und S-Bahnübersichten führen– wenn man sie benutzt – an den richtigen Ort. In der hinteren Klappe verstauen wir Kärtchen und Fahrscheine, von denen wir das letzte Mal schrieben: „ die nun nicht mehr verloren(gehen) und die wichtigsten Ereignisse hat man auch schnell aufgeschrieben, so daß das Büchelchen beides schafft: Festhalten dessen, was war und gut aufbereitete Adressen- und Übersichtsliste für den nächsten Wienaufenthalt.“ Stimmt.
Anreise: Viele Wege führen nach Wien. Wir schafften es auf die Schnelle mit Air Berlin, haben aber auch schon gute Erfahrungen mit den Nachtzügen gemacht; auch tagsüber gibt es nun häufigere und schnellere Bahnverbindungen aus der Bundesrepublik nach Wien.
Aufenthalt: Betten finden Sie überall, obwohl man glaubt, ganz Italien besuche derzeit Wien! Überall sind sie auf Italienisch zu hören, die meist sehr jungen und ungeheuer kulturinteressierten Wienbesucher. Wir kamen ideal unter im Lindner Hotel Am Belvedere, Rennweg 12, info.wien@linderhotels.at. Sinnvoll ist es, sich die Wien-Karte zuzulegen mitsamt dem Kuponheft, das auch noch ein kleines Übersichtsheft über die Museen und sonstige Möglichkeiten zur Besichtigung in Wien ist, die Sie dann verbilligt wahrnehmen können. Die Touristen-Information finden Sie im 1. Bezirk, Albertinaplatz/Ecke Maysedergasse.
Essen und Trinken: Völlig zufällig gerieten wir am Eröffnungstag der Ausstellung auch in die Eröffnung des NASCH im Hilton Plaza. NASCH heißt das neue Restaurant aus gutem Grund, denn es geht auch ums Naschen, man kann sich seine Vorlieben in kleinen Portionen, dafür vielfältig aussuchen, in der Art der spanischen Tapas. Das Entscheidende am neuen Restaurant im Hilton Plaza aber ist, daß die Grundlage die österreichische Küche ist. Man kann sich quasi durch Österreich durchessen. Wir werden das ein andermal tun und dann darüber berichten.
Mit freundlicher Unterstützung von Air Berlin, dem Wien Tourismus und dem Belvedere.