Trotz der unvermeidlichen Intimität innerhalb der Haftanstalt vermögen Kaiser und Kumorek kein persönliches Bild der Protagonisten zu vermitteln. Interesse oder Mitgefühl für die Interviewten kann nicht entstehen. Die frustrierende Monotonie und geistige Abstumpfung des Haftalltags bringt „Die Eroberung der inneren Freiheit“ nicht zur Sprache. Geredet wird über die Diskussionsthemen, welche auf Titelkarten die Reportage in Kapitel unterteilen: „Wahrheit und Lüge“, „Der Kick des Verbrechens“ und schließlich „Die innere Freiheit“. Was das Ganze mit Sokrates zu tun hat, bleibt vage. Die Sentenzen eines beliebigen anderen Philosophen, ob er nun eingesperrt war wie der griechische Denker oder nicht, könnten ebenso als Diskussionsanstoß dienen. Das zuvor von der Dokumentation ausgesparte Gefühl der Eintönigkeit dominiert in den Diskussionen umso stärker. Ein interessantes Gespräch führen und einen interessanten Film über besagtes Gespräch zu drehen sind zweierlei, macht die Reportage unmissverständlich klar. Schnell verdientes Geld kann eine fatale Verlockung sein, nicht jeder bekommt von seinen Eltern Werte vermittelt, krumme Geschäfte macht auch der Staat. Bemerkenswerteres hört man nicht von den Häftlingen. So positiv der Austausch der Gefangenen in einer philosophischen Runde ist, so ermüdend ist das Zuhören.
Wenn die „sokratischen Gespräche“ sie zu tieferen Erkenntnissen geführt haben, haben die Protagonisten diese Erkenntnisse für sich behalten. Der Verzicht auf einen Hintergrundkommentar steigert den eklatanten Mangel an Informationen. Über die Biografien der Häftlinge erfährt man fast nichts. Noch weniger verrät die Reportage über die beiden Leiter der sogenannten sokratischen Gespräche. In einem im Presseheft abgedruckten Interview sagen sie über die Häftlinge: „Sie kriegen etwas raus – ganz und gar durch eigenes Nachdenken.“ Das klingt nach eben jener intellektuellen Herablassung, von der sich die Gesprächsleiter in ihren vorherigen Äußerungen zu distanzieren versuchen, wenn sie behaupten „einem der edelsten Grundbedürfnisse des Menschen zur Befriedigung zu verhelfen, dem Bedürfnis, sich mit seiner Vernunft über sich selbst Klarheit zu verschaffen, ohne hierbei von jemandem, der es besser zu wissen meint, auf den richtigen Weg geleitet zu werden.“ Entgegen diese Aussagen beruht jedoch die sokratische Gesprächsführung gerade auf der Maieutik, welche die Fragen so gestaltet, dass der Antwortende selbst zu der vermeintlich richtigen Erkenntnisse gelangt und so die Meinung seines Gegenübers unbewusst übernimmt – eine (sokratische) Ironie, die der Film verschweigt.
Die genaue Ausrichtung und Zielsetzung der „Sokratischen Gespräche unter Gefangenen“ bleibt unklar. Um ihren Kernpunkt schleicht die Reportage schweigend herum, peinlich bemüht, ihn nicht zu berühren. Diese Bedecktheit lässt nicht nur den Zuschauer letztendlich im Unklaren über Sinn und Nutzen der Gespräche, welche „Die Eroberung der inneren Freiheit“ zumindest durch die Implikation des Filmtitels in Aussicht stellen, sondern wirkt unseriös. Höchstes Ziel der klassischen Philosophie war die geistige Aufklärung – gerade sie erreicht „Die Eroberung der inneren Freiheit“ nicht.
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Titel: Die Eroberung der inneren Freiheit – Sokratische Gespräche unter Gefangenen
Land/Jahr: Deutschland 2009
Genre: Dokumentarfilm
Kinostart: 27. Mai 2010
Regie und Buch: Silvia Kaiser, Aleksandra Kumorek
Laufzeit: 80 Minuten
Verleih: Real Fiction
Internet: www.realfictionfilme.de/die-eroberung-der-innderen-freiheit