Kennzeichnend für die Schöpfungen der Nobelpreisträgerin ist deren gewaltiger Umfang. Für seine Inszenierung „Das schweigende Mädchen“ hat Johan Simons sich durch ein Werk von 220 Seiten gearbeitet, aus dem er dann, gemeinsam mit seinen SchauspielerInnen an den Münchner Kammerspielen, ein in zwei Stunden spielbares Stück herauskristallisierte. Gespielt wird allerdings nicht. Die AkteurInnen sitzen auf der Bühne und lesen ihre Texte von Blättern ab, die auf Notenpulten platziert sind.
Zu Beginn allerdings rast Stefan Hunstein über die Bühne und empört sich über den V-Mann des Verfassungsschutzes, der sich zur Tatzeit eines Mordes am Tatort aufhielt, aber nichts gehört und gesehen haben will. Die wütende Anklage richtet sich gegen alle, die nichts davon bemerkt haben wollen, dass das Neonazi-Trio Böhnhard, Mundlos und Zschäpe mehr als dreizehn Jahre durch Deutschland reiste und dabei zehn Menschen ermordete.
Nach diesem Prolog nehmen sieben SchauspielerInnen nebeneinander an der Rampe ihre Plätze ein. In der Mitte Thomas Schmauser als Richter in traditioneller Robe, rechts und links von ihm Wiebke Puls, Benny Claessens und Steven Scharf, die sich als Engel bezeichnen und schwarze Kutten tragen, unter deren Kapuzen sie ihre Gesichter verbergen können. Links außen sitzen Annette Paulmann und Hans Kremer in weißen Hemden und blauen Röcken. Sie sind die Propheten, zugleich auch die Mütter von Uwe Böhnhard und Uwe Mundlos. Auf der rechten Seite ganz außen erscheint Risto Kübar. In weißem Gewand, mit blondem langem Haar und blondem Bart verkörpert er offenbar Jesus.
Dem Programmheft ist zu entnehmen, dass Johan Simons die christlichen Bezüge in Elfriede Jelineks Stück zunächst wohl befremdlich fand. Nach Gesprächen mit der Autorin hielt er es jedoch für richtig, zu demonstrieren, dass wir alle Teil des Abendlands und von der christlichen Kultur beeinflusst sind. Das galt auch für Böhnhard, Mundlos und ganz besonders gilt es für „das schweigende Mädchen“ Beate Zschäpe, das von Elfriede Jelinek zur Jungfrau Maria erhöht oder erniedrigt wird. Als Grund für diese Beförderung führt Jelinek eine Operation an, bei der Zschäpe die Eierstöcke entfernt wurden. Trotzdem habe sie, die Leistung der Heiligen Jungfrau noch übertreffend, nicht nur einen Sohn, sondern mit Böhnhard und Mundlos zwei Söhne und Erlöser geboren.
An dieser Stelle verlor ich die Lust, Jelineks Gedankengängen aufmerksam zu folgen, auch wenn mir nicht entging, dass der Engel der Verkündigung, von Wiebke Puls sehr eindrucksvoll gestaltet, die Heilige Jungfrau Beate noch mehrfach heimsuchte. Die anderen Engel äußerten sich rassistisch und fremdenfeindlich im Sinne der Täter, die Propheten waren zu dumm, um etwas voraussehen zu können, die Mütter hielten Springerstiefel für das bei Jugendlichen übliche Schuhwerk, und der Richter war rat- und hilflos wie sein realer Kollege im realen NSU-Prozess.
Elfriede Jelinek hat, wie immer, fleißig recherchiert, Prozessberichte und Zeugenaussagen gesammelt, mit eigenen aus- und abschweifenden Kommentaren collagiert und eine Verhandlung vor dem Jüngsten Gericht erschaffen, in der alles Böse sich offenbart und die fein geschliffenen Anklagen gegen Deutschland sich im sakralen Nebel verlieren.
Ganz präzise Töne dagegen sind in der Musik von Carl Oesterhelt zu hören. Sashiko Hara (Piano), Gertrud Schilde (Violine) und Salewski (Synthesizer), in der Mitte der Bühne platziert, bringen eine eindringliche Totenklage für die Opfer hervor, die viel mehr schmerzt als all die gesprochenen Worte.
Muriel Gerstner hat die Bühne nach dem selbstgebastelten Spiel gestaltet, mit dessen Verkauf sich das NSU-Trio finanzierte, bevor es durch Überfälle auf Supermärkte und Banken größere Gewinne erzielte. „Pogromly“, angelehnt an „Monopoly“, erfreute sich in rechtsradikalen Kreisen großer Beliebtheit. Ziel des Spiels ist es, Städte „judenfrei“ zu machen. Höchstes Gebäude ist das „Erbschaftsamt“. Es gibt auch einen „Heimatgarten“, in dem die „Heimaterde“ kompostiert und zum Konservieren ins zweithöchste Gebäude, das „Konservatorium“ gebracht wird. Rechts außen befindet sich die „Seynshütte“ von Martin Heidegger, dem Philosophen, auf den sich Elfriede Jelinek häufig bezieht und der dem Nationalsozialismus freundlich zugeneigt war.
„Die Banalität des Bösen“ zeigt sich in diesem Bühnenbild, die Dummheit und der Mangel an Kreativität von Menschen, die dennoch offenbar klüger waren als die Vertreter der ermittelnden Behörden.